In Houston und in Bondo wurden in den letzten Tagen leidgeprüfte Menschen vor Naturgewalten in Sicherheit gebracht. Auch im Nahen Osten sorgt derzeit eine «Evakuierung» für Schlagzeilen. Das Mitleid mit den Betroffenen ist aber überschaubar: Im Grenzgebiet zwischen Syrien und Libanon sind am Montag 400 Kämpfer des «Islamischen Staates» aufgebrochen. Mit Bussen sollen sie in den Osten Syriens gebracht werden.
Vorausgegangen war der erfolgreiche Kampf gegen Terroristennester im Osten des Libanons. Und ein Deal zwischen der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah und den sunnitischen IS-Terroristen: Der IS gibt die Leichen gefallener Hisbollah-Kämpfer frei, dafür darf er unbehelligt aus seiner Enklave im Libanon abziehen.
US-Luftangriff stoppt IS-Konvoi
Am Mittwoch wurde der IS-Konvoi von einem Luftangriff der US-geführten Koalition gestoppt: Ein gewaltiger Krater in der Strasse verunmöglichte die Weiterfahrt des Konvois. Er steckt nun in der zentralsyrischen Provinz Homs fest.
Brett McGurk, der Sonderbeauftragte der Anti-IS-Koalition, kritisierte den Abzug des IS scharf: «Wir waren kein Teil dieses Deals. (…) Der IS ist eine globale Bedrohung; Terroristen umzusiedeln und andere weiterzureichen, ist keine nachhaltige Lösung.»
Ob nachhaltig oder nicht: Für den Libanon ist die Vertreibung der Dschihadisten eine Erfolgsmeldung, wie SRF-Korrespondent Philipp Scholkmann sagt: «Offiziell wird nun der heroische Sieg der libanesischen Armee gefeiert». Doch die Wahrheit ist, wie so vieles im Libanon, komplizierter.
Für Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah ist der Kampf in Syrien der gleiche wie derjenige gegen Washington, Tel Aviv und Europa: Sie alle wollten die arabische Nation zerstückeln.
Die libanesische Armee rückte den Terroristen vom eigenen Territorium aus zu Leibe, von Syrien aus komplettierte der Hisbollah den Zangenangriff. Die libanesische Armee wiederum bestreitet die Zusammenarbeit mit der Hisbollah vehement.
Ein kompliziertes, kleines Land
«Das gibt Einblick in die Psychologie dieses komplizierten kleinen Landes», sagt Scholkmann. Der Vielvölkerstaat mit seinen gerade einmal sechs Millionen Einwohner versammelt eine Vielfalt an christlichen und muslimischen Konfessionen.
Die ehemalige französische Kolonie blickt auf einen blutigen Bürgerkrieg, anhaltende konfessionelle Spannungen und auf militärische Interventionen Israels zurück: Lange Jahre bekämpfte Tel Aviv militante Palästinenser im Libanon, die einst als Flüchtlinge gekommen waren; in den letzten Jahrzehnten war es der Hisbollah.
«Die Schiitenmiliz ist erklärter Feind der USA und noch viel mehr Israels. Hinter ihr steht die schiitische Regionalmacht Iran», so Scholkmann. Und die Miliz verfüge über ein besseres Waffenarsenal und sei kampferprobter als die eigentliche libanesische Armee. Nicht zuletzt, weil sie ihr Kriegshandwerk an der Seite des Assad-Regimes in Syrien verfeinert hat:
Die libanesische Regierung will nun das Gesicht wahren, indem sie die Zusammenarbeit mit der Hisbollah abstreitet. Sie will demonstrativ zeigen, dass ein souveräner Staat erfolgreich gewesen ist.»
Im Schwitzkasten der Regional- und Weltmächte
Die Schiitenmiliz ist gleichzeitig eine einflussreiche politische Partei im Libanon. Und sie komplettiert den «schiitischen Halbmond» vom Mittleren Osten bis ans Mittelmeer: Über die Achse Teheran, Bagdad, Damaskus bis nach Beirut versucht Iran, seine Einflusssphäre in der Region zu vergrössern. Der Hisbollah spielt eine Schlüsselrolle in diesem Bestreben.
«Die libanesische Armee wiederum wird massgeblich von den Amerikanern unterstützt», so Scholkmann, der seit fünf Jahren in der Hauptstadt Beirut lebt. Die Achse Beirut-Washington dürfte mit ein Grund dafür sein, dass die Allianz bei der Vertreibung der Dschihadisten nicht an die grosse Glocke gehängt wird.
Bei allen geopolitischen Wirrungen und Verflechtungen: Nun gehe ein Aufatmen durchs das Land, sagt Scholkmann. «Die permanente Angst, dass der Libanon in den Strudel des syrischen Krieges gezogen wird, die Frage der Sicherheit, die alles gelähmt hat: All das tritt zunehmend in den Hintergrund.»
Den Eliten fehlen die Kraft und der Wille, einen leistungsfähigen Staat aufzubauen.
Der Libanon, der bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, steht vor enormen Herausforderungen: «Der Libanon ist ein dysfunktionaler Staat. Das Land wird von einer kleinen Elite von ehemaligen Miliz-Führern aus dem Bürgerkrieg regiert, dazu kommen ein paar Aristokraten und Business-Tycoons.» Die Korruption sei gewaltig, die Infrastruktur in desolatem Zustand, die Staatsverschuldung extrem.
Immerhin: Zumindest die Sicherheitslage hat sich verbessert: «Als ich vor fünf Jahren hierher kam, war die Anspannung zum Greifen. Es gab immer wieder Schiessereien und auch Bombenanschläge: Die Befürchtung war da, dass der Funke überspringt, der das fragile Vielvölkergemisch zur Explosion bringt.»