Die Szene hat Symbolkraft. «Gott ist gross!», riefen Parteigänger des türkischen Präsidenten spätabends vor dem Denkmal der Republik am Istanbuler Taksimplatz, siegestrunken, türkische Landsleute vereint mit arabischen Islamisten, in der Begeisterung über einen starken und frommen Führer für die Region. Das Denkmal repräsentierte einmal eine laizistisch verfasste Türkei.
Am Taksimplatz liess Recep Tayyip Erdogan vor fünf Jahren den vielstimmigen Geziprotest im Tränengas ersticken. Nun der Jubel, die Hupkonzerte in Istanbul und anderswo in der Türkei bis tief in die Nacht. Von den vorgezogenen Neuwahlen hatte sich Erdogan ein klares, neues fünfjähriges Mandat erhofft, um seine Macht noch auszubauen. Gemäss dem Chef der Wahlkommission erhielt er es.
Weg frei für den grossen Machtausbau
Wer daran zweifle, beschädige die Demokratie, sagte Erdogan, als er seinen Sieg verkündete. Nun tritt in der Türkei das Präsidialsystem in Kraft, das Erdogan in einer Volksabstimmung vor einem Jahr durchbrachte, wenn auch nur sehr knapp. Das neue System schafft das Amt des Premierministers ab, unterstellt die Minister direkt dem Staatspräsidenten, gibt diesem die Exekutivgewalt, auch grossen Einfluss auf die Justiz.
Die Hoffnung der Opposition, Erdogan in eine Stichwahl zu zwingen, die Hoffnung, dass sich dort gar eine «Wechseldynamik» einstellen würde – diese Hoffnung hat sich zerschlagen. Allerdings: Erdogans religiös-nationalistische AKP büsste Stimmen ein im Parlament. Die Sorge vor einer Wirtschaftskrise war im Wahlkampf zu spüren. Ein Teil des Wachstums der Jahre unter Erdogan war auf Pump. Für die Wirtschaftsprobleme aber machte Erdogan eine Verschwörung des Westens gegen die Türkei verantwortlich.
Zeichen stehen auf absolute Mehrheit
Ohnehin witterte der Präsident überall Neider und Staatsfeinde. Doch der Islamist kann in den konservativen Teilen des Landes unbestrittenermassen auf viele und überzeugte Anhänger zählen. Sie verehren ihn als den mutigen Reformer, der ihnen mehr Rechte gebracht habe und der Türkei insgesamt neuen Respekt in der Welt. Dank der kleinen Verbündeten, der Rechtsaussenpartei MHP, vermag Erdogans AKP gar ihre Verluste im Parlament aufzufangen, zusammen behalten sie offenbar die absolute Mehrheit.
Die Opposition kämpfte unter unfairen Bedingungen. Der stärkste Oppositionskandidat, Muharrem Ince von der kemalistischen, ehemaligen Staatspartei CHP, erhielt nur einen Zehntel der Sendezeit, den die Medien unter Regierungskontrolle Erdogan gewährten. Noch haben sich die Spitzenkandidaten der Opposition zum Ausgang dieser Wahl nicht geäussert.
Erdogan sprach von einem «Sieg der Demokratie». Tatsächlich ist die Türkei nach dieser Wahl wohl noch tiefer gespalten als zuvor. Mit einer Opposition, die sich vor Erdogan islamistischen Neigungen fürchtet, einem zunehmend autoritären Kurs, und dem Lager des Präsidenten, den die Verfassung mit grosser Machtfülle ausstattet, und der seine Vision einer «neuen» und «frommen» Türkei entschlossen voranzutreiben gedenkt.