Moralisch lässt sich der Besuch von Nancy Pelosi, der Nummer drei in der amerikanischen Politikhierarchie, gut rechtfertigen. Die von Peking zunehmend unter Druck gesetzte taiwanesische Bevölkerung hat Solidarität verdient. Legitim ist die Visite ebenso – wieso soll China bestimmen, wer nach Taiwan reisen darf und wer nicht?
Die entscheidende Frage aber lautet: Ist Nancy Pelosis Entscheidung politisch klug?
Das ist sie nicht. Zum einen verbindet sich damit kein konkretes Anliegen. Pelosis Besuch wird kein Problem lösen, kein positives Ergebnis bringen. Zum anderen ist derzeit ein denkbar schlechter Moment, um eine weitere Eskalation der Spannungen zwischen China und dem Westen zu riskieren.
Ausgerechnet vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, einer sich abzeichnenden weltweiten Inflations- und Wirtschaftskrise und einer noch keineswegs bewältigten Corona-Pandemie. Ausserdem ist offenkundig, dass man auch in Taiwan selber nicht wirklich begeistert ist über den hohen Gast.
Vorteil Peking – mit Abstrichen
Washington hat momentan nichts zu gewinnen, wenn das Verhältnis zu Peking noch konfrontativer wird. Zumal die chinesische Führung zahlreiche Handlungsoptionen hat. Verbale Vorwürfe gegen die USA. Militärische Manöver rund um Taiwan. Die Behinderung des zivilen Flugverkehrs von und nach der Hauptstadt Taipeh und die Störung der Handelsströme auf See.
China könnte darüber hinaus die eher Peking-freundliche Minderheit in Taiwan gegen die Peking-kritische Regierung aufhetzen. Es könnte Russland im Ukraine-Krieg nicht länger nur politisch, diplomatisch sowie ein bisschen wirtschaftlich, sondern auch ganz direkt militärisch unterstützen. Und es könnte – dies die Maximalvariante – in Taiwan einmarschieren und versuchen, sich den demokratisch regierten Inselstaat mit Gewalt einzuverleiben.
Diese schlimmste Variante ist momentan nicht die wahrscheinlichste. Noch hat Peking die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass ihm Taiwan eher früher als später ohnehin wie eine reife Frucht in den Schoss fällt. Zudem weiss Staatschef Xi Jinping, dass eine Eroberung der Insel nicht nur einen hohen militärischen Preis hätte, sondern zugleich die Weltwirtschaft und damit auch die chinesische noch weitaus schwerer beschädigen würde als der aktuelle Ukraine-Krieg.
Kurz: Es ist für China vorteilhaft zuzuwarten – und eine Eroberung Taiwans erst in ein paar Jahren ins Auge zu fassen. Denn dann werden sich die militärischen Kräfteverhältnisse im Westpazifik noch stärker zugunsten Chinas und zuungunsten der USA gewandelt haben.
Kleinigkeiten können grosse Folgen haben
Gleichzeitig kann es Peking angesichts von Pelosis Visite nicht bei harschen Worten bewenden lassen. Schliesslich schürt das Xi-Regime selber den Nationalismus seit Jahren und stellt die Integration Taiwans in die Volksrepublik als unverzichtbar dar. Entsprechend steht die chinesische Führung unter Druck und muss irgendetwas tun, was die eigene Bevölkerung nicht als allzu laue Reaktion empfindet.
Das Risiko einer Eskalation ist also beträchtlich. Die Spannungen sind hoch. In einer solchen Situation können kleinste Fehler und Missverständnisse zu einem Gewaltausbruch führen. Und das obschon das vorläufig weder Peking noch Washington anstreben. Pelosis Besuch ist in der aktuellen Lage brandgefährlich.
Allerdings ist ebenfalls offen, ob Leisetreterei und ein zögerliches Auftreten der USA und des Westens tatsächlich die richtige Haltung in der Taiwan-Frage darstellen. Gegenüber Russland hat man nach dessen Annexion der Krim äusserst zurückhaltend reagiert – und, wie man nun sieht, die Ukraine trotzdem nicht vor einer grossen russischen Invasion bewahrt.
Auch das Rezept der Zurückhaltung funktioniert offenkundig gegenüber autoritären Regimen nicht einwandfrei.