Bisherige Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny waren bloss Nasenstüber. Das jüngste aber ist eine Breitseite. Denn damit stützt das oberste Menschenrechtsgericht Europas die Argumentation von Nawalny, wonach politische Motive den Ausschlag gaben, dass er schikaniert, verhaftet und ihm ein faires Gerichtsverfahren verwehrt wurde.
Als Russland in Strassburg im vergangenen Februar unterlag, feierte Moskau dies noch fast als Sieg. Denn die Rede war da primär von der Verletzung von Freiheitsrechten und der Versammlungsfreiheit und von unzulänglichen Verfahren. Damit konnte Russland gut leben. Doch nun ist im Urteil erstmals von Verfolgung aus politischen Gründen die Rede. Das tut mehr weh.
Nawalny bekommt auf ganzer Linie recht
Das weiss Alexej Nawalny natürlich. Genau deshalb hat er das vorinstanzliche Urteil, obschon seine Klage darin gutgeheissen wurde, weitergezogen an die oberste Instanz. Und bekam nun von der Grossen Kammer in Strassburg auf der ganzen Linie recht.
Dabei macht sich Nawalny keinerlei Illusionen. Es würde ihn wundern, wenn der Kreml das Urteil akzeptiert, sagt er. Trotzdem sei es von grösster Bedeutung. Denn es widerlegt vor aller Welt, vor allem aber auch vor den Russen selber, dass die russischen Polizei- und Justizorgane tatsächlich angebliche Korruptions- und Betrugsdelikte ahnden oder die öffentliche Ordnung sichern wollen, wenn sie politisch Unliebsame ins Visier nehmen. Das behaupten sie zwar ein ums andere Mal. Doch genau das ist nun, höchstrichterlich festgeschrieben, eine Lüge.
Auch Rehabilitation für andere Widerständler
Das Grundsatzurteil aus Strassburg rehabilitiert also nicht nur Nawalny, sondern mit ihm zahllose russische Widerständler. Und es macht ihnen Mut, da auch die Aussenwelt anerkennt, dass sie zu Unrecht und mit fadenscheinigen Vorwänden verfolgt werden.
Diese Wirkung ist für die russische Innenpolitik langfristig weitaus wichtiger als die Frage, ob der Kreml das Urteil respektiert und Nawalny symbolische 65'000 Euro Schadenersatz und Genugtuung zahlt.
Der dezidierte Richterspruch birgt jedoch zugleich ein Risiko. Und zwar für den Europarat, zu dem der Menschenrechtsgerichtshof gehört. Es könnte dazu führen, dass Russland die traditionsreiche Organisation verlässt. Schon jetzt hat die russische Delegation im Europarat kein Stimmrecht mehr – als Strafmassnahme wegen der Annexion der Krim. Deshalb bleibt Moskau seine Beiträge seit Jahren schuldig. Zahlt es auch 2019 nicht, erfolgt die Kündigung der Mitgliedschaft automatisch.
Manche Beobachter sehen darin eine willkommene Flurbereinigung im Europarat. Viele aber auch eine grosse Gefahr, wenn eine der verbleibenden Brücken zwischen Europa und Russland eingerissen wird.