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Netanjahu vor dem US-Kongress Keine Sternstunde der «zivilisierten Welt»

Kein ausländisches Staatsoberhaupt hat so oft vor dem versammelten US-Kongress in Washington eine Rede halten dürfen wie der israelische Premier Benjamin Netanjahu. Zum vierten Mal wurde ihm diese Ehre zuteil. Damit hat er Winston Churchill überholt. Beehrt hat Netanjahu damit vor allem sich selbst und die frenetisch applaudierenden US-Republikanerinnen und Republikaner.

Während der Premier das Leiden der Geiseln beschwor, welche die Hamas am 7. Oktober 2023 aus Israel in den Gazastreifen verschleppt hatte, entfernte die Polizei mehrere Angehörige von Geiseln aus dem Parlamentssaal, die gegen Netanjahu protestierten und von ihm die Zustimmung zu einer Waffenruhe im Gazastreifen verlangten.

Tiefpunkt amerikanisch-israelischer Beziehungen

Im US-Kongress boykottierten fast 90 demokratische Parlamentarierinnen und Parlamentarier Netanjahus Rede – ein Tiefpunkt der amerikanisch-israelischen Beziehungen. Tausende Menschen demonstrierten zudem in Washington und in Israel gegen Netanjahu, gegen den Krieg im Gazastreifen und für die Freilassung der Geiseln.

Netanjahu bezeichnete sie pauschal als «nützliche Idioten Irans», welche die Hamas unterstützten. In den gleichen Topf warf er die internationalen Gerichtshöfe, während er Israel und die USA als Leuchttürme der Demokratie und als Vorhut im «Kampf der zivilisierten Welt gegen die Barbarei» darstellte.

Netanjahu macht auf Churchill

Die Mehrheit der Israeli will, dass Netanjahu als Premier zurücktritt. Weil dieser keine Verantwortung für das Versagen des Sicherheitsapparats am vergangenen 7. Oktober übernimmt, und weil er seit bald 300 Tagen einen Krieg ohne realistisches Ziel führt.

Selbst US-Generäle werfen Israel vor, im Gazastreifen zu schwere Waffen einzusetzen und damit zu viele Zivilpersonen zu töten: mehr, als die USA in ähnlich verfahrenen Kriegen getötet hätten. US-Präsident Joe Biden lässt zwar weiterhin Waffen an Israel liefern, hält jedoch die grössten Bomben zurück. Was Netanjahu prompt kritisierte. «Give us the tools and we’ll finish the job», forderte Netanjahu von den USA, in Anlehnung an Winston Churchills berühmter Rede.

Kein Plan für Frieden mit Palästinensern

Doch Netanjahu ist nicht Churchill und die USA sind nicht mehr das Land von damals. Netanjahus Regierung ist die extremste in der Geschichte Israels und die USA sind gespalten in Trump-Gegnerinnen und -Befürworter. Zwar unterstützen auch die demokratischen Abgeordneten, welche Netanjahus Rede vor dem Kongress ferngeblieben sind, Israel. Aber Netanjahu macht es ihnen immer schwieriger.

Mit seiner Rede machte er klar: Er hat keinen Plan für einen Frieden mit den Palästinensern. Weil er weiss: Ein Ende des Krieges bedeutet Neuwahlen, und damit wohl das Ende seiner Macht. Mit Kriegen ohne Ende und alten Männern, die nicht von der Macht lassen können, haben die USA selbst Erfahrung. Netanjahus realitätsferne Rede vor frenetisch applaudierenden Republikanern war keine Sternstunde der von ihm beschworenen «zivilisierten Welt».

Susanne Brunner

Leiterin Auslandredaktion

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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandredaktion von Radio SRF.

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10vor10, 24.07.2024, 21:50 Uhr; stal

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