Die Ukraine sucht offenbar nach Wegen, um von westlichen Waffenlieferungen unabhängiger zu sein. Details hat Präsident Selenski keine genannt. Fabian Hinz ist Militärexperte bei der Denkfabrik IISS in Berlin. Wie ordnet er dies ein?
SRF News: Wie kommt die Ukraine zu dieser Raketen-Entwicklung?
Fabian Hinz: Man muss erst mal sagen, die Ukraine hatte schon immer ein Raketenentwicklungsprogramm, auch vor dem Krieg. Die Ukraine war essenzieller Bestandteil des sowjetischen Raketenprogramms und hat dort auch Teile der sowjetischen Interkontinentalraketen gebaut. Wichtige Fabriken waren auf dem Gebiet der Ukraine. Schon vor dem Krieg hat man versucht, dieses Know-how, das man geerbt hat, zu nutzen, um eigene ballistische Raketen zu entwickeln.
Experten gehen jetzt davon aus, dass es sich eventuell um dieses Projekt handelt, das einen ersten Erfolg in Form eines Testfluges verbuchen konnte.
Was heisst das jetzt für die Ukraine, wenn sie eine solche Rakete erfolgreich getestet hat?
Es würde die Ukraine auf dem Weg hin zu einer eigenen Produktionsfähigkeit für ballistische Raketen einen deutlichen Schritt weiter bringen. Natürlich braucht man mehr als einen Testflug. Die Entwicklung von solchen Systemen dauert eine gewisse Zeit – es ist nicht ganz einfach, aber es hätte für die Ukraine eine grosse strategische Bedeutung, weil eine solche Waffe eine relativ grosse Reichweite hätte.
Ballistische Raketen sind gar nicht so leicht abzuwehren. Das heisst, es wäre für die Russen eine grosse Herausforderung.
Der Westen hat weitreichende Marschflugkörper und auch ein paar ballistische Raketen geliefert. Aber all diese Systeme unterliegen westlichen Beschränkungen und werden nur in gewissen Stückzahlen geliefert. All das wäre anders mit einem in der Ukraine produzierten und gebauten Waffensystem. Nicht zuletzt sind ballistische Raketen auch nicht leicht abzuwehren. Das heisst, es wäre für die Russen eine grosse Herausforderung.
Nimmt Russland somit diese Anlagen auch ins Visier?
Auf jeden Fall. Die Russen haben gezeigt, dass sie immer wieder ukrainische Produktionsanlagen getroffen haben.
Es ist nicht leicht, eine solche Produktionsinfrastruktur vor den Russen zu verstecken.
Natürlich haben die Russen ihre eigenen Beschränkungen: Manche ihrer Raketen sind nicht so genau, wie sie das gerne hätten. Gleichzeitig ist die russische Aufklärungsfähigkeit nicht so gut, wie man es von einem Land wie Russland erwarten würde. Aber dennoch ist es durchaus nicht leicht, eine solche Produktionsinfrastruktur vor den Russen zu verstecken.
Welche Bedeutung hat dieser offenbar erfolgreiche Test von ballistischen Raketen «Made in Ukraine» für die Ukraine und den Krieg gegen Russland?
Es kommt darauf an, ob man es schafft, den Schritt hin zur einsatzfähigen Massenproduktion zu tätigen. Sollte das der Fall sein, dann hätte es durchaus einen Einfluss auf das Kriegsgeschehen. Eine solche Rakete – wenn es denn diese Rakete ist, die die Ukraine entwickelt hat – hätte eine Reichweite bis 500 Kilometer. Das würde bis Moskau reichen. Sie könnten grossen Schaden anrichten und wären recht präzise.
Wenn die Ukraine in der Lage wäre, dieses System in grösseren Stückzahlen herzustellen und beispielsweise gegen russische Militärproduktionsanlagen einzusetzen, könnte das durchaus einen grösseren Effekt auf das Kriegsgeschehen haben.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.