Am 10. Oktober 2015 hatte ein Selbstmordattentäter in Ankara rund 100 Menschen mit in den Tod gerissen. Ein Jahr später, zum ersten Jahrestag, wollten sich viele Türken am Bahnhof von Ankara zu einem Gedenkmarsch treffen.
Die Einschätzung
Das durften sie aber nicht: Wegen des Ausnahmezustandes in der Türkei sind Demonstrationen aller Art verboten. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen den Zivilisten und der Polizei. Am Ende des Tages waren mehrere Verletzte zu beklagen, weil die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern die Gruppe von ihrem Marsch abhalten wollte. Rund 70 Personen wurden verhaftet.
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Seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli befindet sich die Türkei nicht nur im Ausnahmezustand, die Bedingungen werden für regime-kritische Türken immer härter: Über 100'000 Staatsbeamte wurden entlassen, weil sie in Verbindung zur prokurdischen PKK stehen sollen – von Polizisten über Staatsanwälte, Richter, Uniprofessoren bis hin zu Lehrern ging die Entlassungswelle. Erdogan hat auch mehrere Medien schliessen lassen und spielt mit dem Gedanken, die Todesstrafe wieder einzuführen.
Vom Ausnahme- in den Normalzustand
Und das könnte sogar zum Normalfall werden: Nachdem das türkische Parlament eine umstrittene Verfassungsänderung gutgeheissen hat, fehlt nur noch die Abstimmung Anfang April, dann ist das Präsidialsystem Tatsache. Ein Präsidialsystem, bei dem der Staatspräsidenten fast zum Autokraten wird: Das Amt des Ministerpräsidenten (heute Binali Yıldırım) würde aufgehoben und dessen wichtigste Befugnisse an den Präsidenten übergehen.
Eigentlich ist das Amt des Präsidenten ein repräsentatives. Wenn die neue Verfassung angenommen wird, ändert sich das: Der Präsident kann dann – ähnlich wie in Amerika – Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, Minister ernennen, die Regierung leiten und den Notstand ausrufen. Allerdings wäre es mit europäischen Staatsformen nicht vergleichbar – denn das Parlament würde praktisch entmachtet, der Präsident könnte im Alleingang regieren.
Erdogan als Präsident bis 2034
Einen Vorgeschmack auf das, was kommen könnte, liefert Erdogan jetzt schon: Er ist bereits heute kein repräsentativer Staatschef, hat sich schon früher in die Staatsgeschäfte eingeklinkt und eine klare politische Position bezogen – entgegen der eigentlichen Aufgaben eines türkischen Präsidenten.
Und seitdem der Ausnahmezustand im Juli ausgerufen wurde, kann er an der künftigen Macht schnuppern: Der Ausnahmezustand erlaubt ihm bereits heute, Dekrete zu erlassen. Mittlerweile wurde dieser bis Mitte April verlängert. Danach könnte der Übergang in die neue türkische Republik folgen. Und weil bei den nächsten Wahlen die Zählung der Amtszeiten neu beginnt, könnte Erdogan mit diesem System bis 2034 an der Macht bleiben.
(Sendebezug: SRF 4 News, 10.02.2017, 12:30 Uhr)