Kein Impfschutz gegen Tetanus oder Kinderlähmung: 23 Millionen Kinder haben im Jahr 2020 keine Basisimpfstoffe erhalten. Das zeigt eine Studie der Weltgesundheitsbehörde (WHO) und des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef). Ulrich Heininger ist Vakzinologiechef am Uni-Kinderspital beider Basel und erläutert, was die Folgen dieser Entwicklung sein könnten.
SRF News: Vergangenes Jahr ging die Verabreichung der Basisimpfungen an Kinder seit dem Jahr 2009 am meisten zurück. Was bedeutet das?
Ulrich Heininger: Das ist bedrohlich und beängstigend. Jedes einzelne Kind, das nicht durch Impfungen geschützt wurde, kann jederzeit an einer dieser Krankheiten leiden. Krankheiten wie Masern, Keuchhusten oder Wundstarrkrampf, gegen die wir global impfen, sind potenziell lebensbedrohlich. Das ist ein ernst zu nehmendes Problem.
Was ist mit Impfskeptikerinnen und -skeptikern?
Was oft nicht thematisiert wird, aber zunehmend eine Rolle spielt, sind diese leidigen Behauptungen – ja, ich muss es als Lügen bezeichnen – die immer wieder in den sozialen Medien kursieren. Es wird alles Mögliche behauptet, was an negativen Folgen durchs Impfen passieren könne. Es gibt Behauptungen, dass Kinder, die bestimmte Impfungen bekommen, unfruchtbar werden.
Das ist ein Problem, das die WHO auch erkannt hat. Sie hat vor zwei Jahren Impfzögerlichkeit als eine der zehn globalen grössten Bedrohungen der Weltgesundheit identifiziert.
Im Zeitalter der internationalen Verbundenheit über soziale Medien geraten diese Gerüchte zunehmend auch in die einkommensschwachen Länder und führen dort ebenfalls dazu, dass Eltern teilweise Impfungen für ihre Kinder aktiv ablehnen. Das ist ein Problem, das die WHO erkannt hat. Sie hat vor zwei Jahren Impfzögerlichkeit als eine der zehn globalen grössten Bedrohungen der Weltgesundheit identifiziert.
Welchen Einfluss hat die aktuelle Pandemie?
Covid-19 hat dazu beigetragen, dass in vielen Regionen das Hauptaugenmerk auf die Versorgung der an Covid-Erkrankten gelegt wurde. Auch eine Rolle spielt sicherlich die Sorge vieler Eltern, dass sich ihre Kinder beim Impfen bei einer Ansammlung von anderen Menschen mit Covid-19 anstecken könnten.
Müssen wir uns vermehrt auf Ausbrüche von vermeidbaren Kinderkrankheiten gefasst machen?
Das ist sicher zu befürchten. Wenn ich wetten müsste, welche Krankheit die grösste Herausforderung wird, dann würde ich auf Masern tippen. Das ist eine sehr ansteckende Krankheit. Wir brauchen eigentlich 95 Prozent Durchimpfung in der Bevölkerung, um Ausbrüche zu verhindern.
Wie schätzen Sie die Situation in der Schweiz ein?
Ich will daran erinnern, dass wir in der Schweiz in den Jahren 2008 und 2009 riesige Masernausbrüche hatten, weil Impfskepsis so verbreitet ist, dass es uns bislang nicht gelungen ist, mehr als 95 Prozent aller Kinder zweimal gegen Masern zu impfen. Denn das ist das Ziel, das die WHO ausgerufen hat und das ist das, was es bräuchte, um Masernausbrüche zu verhindern. Die Krankheit kann auch bei uns in Europa und in der Schweiz ausbrechen, unabhängig von Covid-19.
Was bedeutet es, wenn Masern wieder häufiger auftreten?
Gerade in den Ländern, in denen das Gesundheitssystem teilweise zusammengebrochen ist, müssen wir leider davon ausgehen, dass es zu Masernausbrüchen mit den bekannten fatalen Folgen einer viel höheren Sterblichkeit kommen könnte, als wir es in Europa im Rahmen der Masern sehen.
Wenn ich wetten müsste, welche Krankheit die grösste Herausforderung sein wird, dann würde ich auf Masern tippen.
In vielen Regionen der Welt könnten noch viel mehr Menschen daran sterben, weil die Sterblichkeit mit der unzureichenden medizinischen Versorgung und mit der unzureichenden Ernährung der Kinder einhergeht. Das macht mir grosse Sorgen.
Das Gespräch führte Lillybelle Eisele