In der Ukraine ist der oberste Richter festgenommen worden. Er wurde in flagranti bei der Annahme von Bestechungsgeldern in Millionenhöhe erwischt, wie das nationale Anti-Korruptionsbüro mitteilte. Auch bei anderen Richtern des Obersten Gerichtshofes laufen Razzien, wie ukrainische Medien berichten. Erst vor wenigen Monaten sind mehrere hohe Funktionäre nach einer Reihe von Skandalen zurückgetreten. Wie gravierend ist die Situation im kriegsgebeutelten Land? Einschätzungen der Ukraine-Expertin.
SRF News: Wie bedeutend ist der jetzige Fall?
Susan Stewart: Wenn sich dieser Fall bestätigen sollte, ist dies ein Zeichen dafür, dass die grosse Korruption in der Ukraine weiterhin vorhanden ist –und dass sie systemischen Charakter hat. Denn anscheinend handelt der Fall von einem System, bei welchem mehrere Richter davon profitieren sollten. Zudem wird dieses System auch woanders eingesetzt.
Die Ukraine hat in den letzten Jahren grosse Schritte vollbracht. Es wurden Institutionen aufgebaut, die die Korruption bekämpfen sollen.
Überrascht sie der Fakt, dass die Korruption systemisch ist?
Nein. Es ist nur so, dass es während des jetzigen russischen Angriffskriegs einige Stimmen gab, welche erklärten, dass sich in solch einer Situation niemand mehr wagen wird, korrupt zu sein und Geld zu nehmen, das eigentlich dem Staat gehören sollte oder für die Kriegsbedürfnisse ausgegeben werden könnte. Auf der anderen Seite wissen wir, dass systemische Korruption schwierig auszumerzen ist.
Kann man die Bekanntgabe des neuen Falls als Zeichen dafür sehen, dass gegen Korruption vorgegangen wird?
Die Ukraine hat in den letzten Jahren grosse Schritte vollbracht. Es wurden Institutionen aufgebaut, die die Korruption bekämpfen sollen. Und das tun sie ja auch. Das Problem ist, dass sie parallel zu den ganzen alten Institutionen existieren, wie zum Beispiel das Justizsystem. Dieses System wurde noch nicht richtig reformiert.
Aufgrund des Krieges findet auch eine erhöhte Sensibilisierung dafür statt, dass man sich diese Korruption aktuell nicht leisten kann.
2019 war Wolodimir Selenski mit dem Versprechen angetreten, die Korruption zu bekämpfen. Sie haben in einer Studie von 2021 geschrieben, dass Selenski die Reformagenda aber gefährde, weil er die eigene Macht und die des Präsidentenbüros stetig ausgebaut und damit die Rolle von Institutionen der Ukraine geschwächt hat. Hat Selenski die Korruptionsbekämpfung vernachlässigt?
Nicht unbedingt vernachlässigt, aber er hat die Macht dieser Korruptionsbekämpfung geschwächt. Obwohl es Anschuldigungen von Korruptionsfällen in Bezug auf die Leute in seinem Präsidialbüro gegeben hatte, wurde denen zu wenig nachgegangen. Selenski hat zudem wie andere ukrainische Präsidenten vor ihm Leute in Positionen gehievt, welche er kannte und bei welchen er dachte, dass sie ihm gegenüber loyal sind.
Nun ist das Land Opfer eines russischen Angriffskriegs geworden. Ist der Kampf gegen Korruption in einem Kriegszustand nicht auch schwierig zu bewerkstelligen?
Grundsätzlich sind Reformen und Korruptionsbekämpfung im Krieg schwieriger. Die Ukraine befindet sich allerdings bereits seit 2014 im Krieg und hat es geschafft, viele Reformen durchzuführen. Indessen haben wir eine andere Kriegsqualität, es ist viel intensiver geworden und es gibt auch Möglichkeiten für Korruption, die es früher nicht gegeben hat. Allerdings findet aufgrund des Krieges auch eine erhöhte Sensibilisierung dafür statt, dass man sich diese Korruption aktuell nicht leisten kann. Weil man die Gelder für den Krieg braucht, weil man ein gutes Image braucht gegenüber dem Ausland. Von daher gibt es Aspekte, die es schwieriger machen, die Korruption zu bekämpfen, aber auch Aspekte, die vielleicht dabei helfen.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.