In der internationalen Politik sind Höflichkeiten oft Vorboten von Entspannung und Annäherung. Die höflichen Gesten und Worte zwischen dem amerikanischen Aussenminister Anthony Blinken und seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow beim Treffen in der isländischen Hauptstadt Reykjavík stehen jedenfalls in bemerkenswertem Kontrast zu den Umgangsformen der vergangenen Monate.
Seit dem Amtsantritt des amerikanischen Präsidenten Joe Biden im Januar gab es kaum ein nettes Wort zwischen den USA und Russland, im Gegenteil. Biden bezeichnete seinen Amtskollegen Vladimir Putin als «Killer», und in der Ukraine-Frage stehen sich die beiden Länder unversöhnlich gegenüber.
Die lautstark geäusserten Meinungsunterschiede übertönten denn auch die leiseren Signale der Entspannung, etwa die Verlängerung des New-Start-Abkommens zur Begrenzung der Langstrecken-Atomwaffen.
Tauwetter zwischen Moskau und Washington
Die neue Aussicht auf Entspannung und Annäherung erinnert an die ersten Amtsjahre von Bidens Vorgänger Barack Obama. Schon damals, ab 2009, gab es ein kurzes Tauwetter, bevor die Beziehungen spätestens nach der russischen Annexion der ukrainischen Krim-Halbinsel 2014 wieder frostig wurden. Die Ukraine bleibt denn auch einer der grossen Streitpunkte zwischen den USA und Russland, eine Streitbeilegung ist trotz aller Höflichkeiten nicht in Sicht.
Es gibt allerdings einen gewichtigen Unterschied zu damals: Joe Biden stellt seine Aussenpolitik voll und ganz in den Dienst der wirtschaftlichen und geostrategischen Rivalität mit China, andere Ziele werden hinten angestellt. Und mit Blick auf China brauchen die USA möglichst viele Verbündete und möglichst wenig andere Kontrahenten.
Gegenüber Partnerstaaten geben sich die USA daher nachsichtiger als auch schon und wollen beispielsweise die Sanktionen gegen die Betreibergesellschaft der russisch-deutschen Gasleitung North Stream II aufheben. Die amerikanische Kritik an North Stream II bleibt zwar bestehen, doch Deutschland soll nicht vor den Kopf gestossen werden.
Die Höflichkeiten von Reykjavík dürften ein Zeichen dafür sein, dass den USA angesichts der Rivalität mit China weniger Energie und Appetit bleibt für zähe Auseinandersetzungen mit dem Kontrahenten Russland.