Solange der Austausch läuft, schweigen die Waffen: Seit Freitag werden palästinensische Häftlinge gegen israelische Geiseln ausgetauscht. In der Vermittlerrolle steht das IKRK, dessen Delegierte auch in hektischen Situationen Ruhe – und in polarisierenden Konflikten Neutralität und Vertraulichkeit bewahren müssen. Im «Club» erzählt Nils Melzer, wie das ihm und seinem Team gelingt, welchen Gefahren sie dabei ausgesetzt sind und für welche Momente es sich trotzdem immer wieder lohnt.
SRF News: Es sind intensive Tage, auch für das IKRK. Sie überführen derzeit Geiseln wie auch Ex-Häftlinge zurück in die Freiheit. Was ist die Aufgabe des IKRK als neutrale Vermittlerin?
Nils Melzer: Das IKRK ist eine ausschliesslich humanitäre Organisation. Wir beteiligen uns nicht an den politischen Verhandlungen zwischen den Parteien. Nur wenn wir neutral sind und das Vertrauen beider Seiten geniessen, können wir mitten in einem Kriegsgebiet diese Vermittlerrolle übernehmen und sowohl die israelischen Geiseln als auch die gefangenen Palästinenser sicher nach Hause bringen.
Schon rein logistisch ist das heikel, es kann viel schiefgehen …
Wir sind auf allen Ebenen jederzeit mit den Parteien in Kontakt. An den verschiedenen Checkpoints kündigen wir an, wann und wo genau wir mit wie vielen Fahrzeugen und Fahrern unterwegs sind und wie viele Ex-Häftlinge oder Geiseln wir transportieren.
Was passiert, wenn es trotz aller Vorkehrungen zu Schwierigkeiten kommt?
Wenn etwa Soldaten nervös werden, muss man das Tempo sofort drosseln. Beide Hände gehören dann sichtbar ans Steuer, damit jeder von aussen sieht, was im Fahrzeug vor sich geht. Zur Übersicht hilft es, das Licht im Auto einzuschalten. Alle Beteiligten müssen jederzeit genau wissen, was der nächste Schritt sein wird, sonst kann es schnell eskalieren. Ich habe solche Situationen selbst erlebt, im Jugoslawienkrieg vor 25 Jahren oder eben auch im Kontext Israel und besetzte Gebiete.
Doch dann gibt es diese emotionalen Momente, die für alle Betroffenen die Welt verändern.
Trotz teilweise grosser Anspannung während der Transporte ist die Zusammenführung von Familien eine der schönsten Belohnungen eines IKRK-Delegierten. Oft wird man bei der Arbeit blockiert und hat das Gefühl, nur wenig bewirken zu können. Doch dann gibt es diese emotionalen Momente, die für alle Betroffenen die Welt verändern. Es ist ein Privileg, das tun zu dürfen.
Die Waffenruhe im Nahen Osten wurde verlängert. Sind somit weitere Geiselübergaben geplant?
Zumindest haben dies beide Konfliktparteien angekündigt. Wir werden jeweils erst im letzten Moment informiert. Dann, wenn die Namenslisten für den aktuellen Tag definitiv feststehen.
Das IKRK hat noch etwa 130 Angestellte im Gazastreifen. Können Sie deren Sicherheit noch gewährleisten?
Die humanitären Zustände sind katastrophal. Viele unserer Angestellten haben ihre Familien in Gaza. Manche haben Häuser verloren, einige leider auch Familienmitglieder. Ein langjähriger Kollege von uns ist vor ein paar Tagen mit seiner Familie bei einem Angriff umgekommen. Das Risiko ist immer da. So tragisch es ist, es widerspiegelt auch die Situation der Bevölkerung, und mit unseren lokalen Angestellten sind wir Teil davon. Sicherheit zu gewährleisten hat erste Priorität, in dieser Situation ist es aber unglaublich schwierig.
Das IKRK ist Hüterin der Genfer Konventionen und erinnert die Kriegsparteien an die Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Wie gehen Sie vor?
Mit Überzeugungsarbeit. Unser Mandat räumt uns keine Durchsetzungsmacht ein. Durch unsere Präsenz und dadurch, dass wir ganz bewusst nicht Partei ergreifen, können wir in den Dialog treten, der zwischen den Kriegsparteien zusammengebrochen ist. Wir können und müssen sie an die Menschlichkeit des Gegners erinnern, aber auch die eigene Menschlichkeit, trotz aller Feindseligkeiten.
Dringen Sie durch?
Immer wieder. Die letzten Tage im Nahen Osten sind ein Beweis dafür.
Das Gespräch führte Barbara Lüthi.