Soldaten haben laut einem neuen Bericht von Amnesty International in Lagern im Nordosten Nigerias Tausende von Frauen und Mädchen misshandelt und ausgebeutet, die von der Terrormiliz Boko Haram in Lager geflüchtet waren. Unter Androhung von Gewalt und im Tausch gegen Nahrung wurden sie zum Sex gezwungen. Die Armee bestreitet alles. Massnahmen werde der erschütternde Bericht kaum auslösen, sagt Auslandredaktor Patrik Wülser.
SRF News: Wie überraschend sind die Ergebnisse des AI-Berichts?
Patrik Wülser: Das Ausmass ist erschreckend, aber der Tatbestand überrascht leider nicht. Bereits früher gab es Foltervorwürfe gegen die nigerianische Armee. Im Norden Nigerias herrscht teilweise Anarchie. Auch in anderen afrikanischen Ländern kam es zu Übergriffen, zum Beispiel von UNO-Blauhelmen in der Zentralafrikanischen Republik. Die Vorwürfe gegen Hilfswerke zeigen, dass selbst Helfer teilweise ihre Machtposition missbrauchen und skrupellos eigene Bedürfnisse befriedigen.
Wie leben die in Nigeria beschuldigten Soldaten?
Die Missbräuche sollen in all den Lagern für intern Vertriebene stattgefunden haben. Dort leben die Menschen mit den Soldaten auf engem Raum zusammen. Die islamistische Terrormiliz Boko Haram hat in den vergangenen Jahren Tausende aus Dörfern vertrieben. Es sind Millionen Menschen unterwegs. Sie besitzen nur das, was sie bei der Flucht auf sich trugen. Sie sind auf Gedeih und Verderb vom Staat und der Armee abhängig, was Nahrung und medizinische Hilfe betrifft.
Wurden die Missbräuche durch die prekären Verhältnisse begünstigt?
Ja. Die Soldaten wurden aus dem Süden in die Lager geschickt. Sie sind schlecht ausgerüstet, erhalten oft über Monate keinen Sold. Die Kommandostrukturen sind schlecht. Es ist in Afrika häufig so, dass der Staat die Armee sich selber überlässt. Sie muss sich selber ernähren und organisieren. Die Soldaten sind nach monatelangen Einsätzen auch demoralisiert. All dies begünstigt solche Probleme.
Es ist in Afrika häufig so, dass der Staat die Armee sich selber überlässt.
Die Opfer wurden in vielen Fällen bereits von der Terrormiliz Boko Haram missbraucht. Hat das die Hemmschwelle für die Soldaten heruntergesetzt?
Viele dieser Frauen sind tatsächlich mehrfache Opfer. Das wird auch immer wieder beschrieben, und das wurde mir auch in zahlreichen Gesprächen geschildert. Sie wurden von Boko Haram aus den Dörfern entführt und im Busch versklavt und zwangsverheiratet. Wenn sie entkommen können, werden sie einmal mehr stigmatisiert. Sie werden im eigenen Dorf ausgestossen, oft auch von der Familie. Auch in den Flüchtlingslagern werden sie als minderwertig betrachtet und sind Freiwild für die Soldaten.
Auch in den Flüchtlingslagern werden die Opfer als minderwertig betrachtet und sind Freiwild für die Soldaten.
Wieso kamen diese Enthüllungen nicht früher ans Licht? Setzen sich die Familien nicht für diese Frauen ein?
Die Männer sind oft tot, denn bei Überfallen von Boko Haram werden alle Männer getötet und nur die Frauen mit ihren Kindern verschont. Dazu kommt, das Widerstand gegen Uniformierte in Afrika nie eine gute Idee ist. Im Unterschied zur Schweiz, wo eine Uniform quasi staatlicher Schutz bedeutet, ist eine Uniform dort häufig ein Machtinstrument, um sich zu bereichern oder seine Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Frau hat gegenüber BBC erklärt, sie sei mit fünf hungrigen Kindern monatelang im Lager gewesen. Diese hätten über Tage nichts zu essen gehabt und geweint. Dann ist die Wahl nicht mehr gross.
Steckt hinter diesem Missbrauch ein System?
Soweit würde ich nicht gehen, dass quasi ein Kommandobefehl von ganz oben aus der Hauptstadt Abuja kam. Es ist vielmehr ein desolates System mit einer schlecht organisierten und schlecht ausgerüsteten Armee ohne Lohn und ohne Vorbilder. Die Soldaten sind anarchisch sich selber überlassen und können im Busch im Norden tun, was sie wollen.
Die Soldaten sind anarchisch sich selber überlassen und können im Busch tun, was sie wollen.
Sind von der nigerianischen Armee irgendwelche Massnahmen zu erwarten?
Nein. Die Armee streitet nicht das erste Mal alles heftig ab. Bereits vor zwei Jahren gab es eine ähnliche Untersuchung nach Vorwürfen, die nigerianische Armee foltere Gefangene systematisch und töte sie in Militärgefängnissen. Der Reputationsschaden wäre für das Land und die Armee zu gross. Deshalb streitet man alles kategorisch ab.
Präsident Muhammadu Buhari war vor drei Jahren als Saubermann angetreten. Wie sehr leidet sein Image unter den Enthüllungen?
Es ist sicher ein grosser Schaden für den Präsidenten. Er hat bisher nicht reagiert. Es gibt auch gar nicht viel zu sagen, denn die Untersuchung bringt alles auf den Tisch. Ich bin diesem ehemaligen General und obersten Kommandanten der Armee einmal begegnet. Eigentlich ist es ein ehrenhafter Mann, der als General einen hervorragenden Ruf hatte. Er bekämpfte in seinem Umfeld Korruption und Missbrauch rigoros. Aber es zeigt sich, dass er als Politiker seine Versprechen nicht halten kann. Das 190-Millionen-Volk ist mit seinen Problemen offensichtlich schlicht zu gross. Buhari ist zudem gesundheitlich angeschlagen. Er hat einen grossen Teil seiner bisherigen Regierungszeit in Londoner Spitälern verbracht. Diese Aufgabe überfordert ihn wahrscheinlich.
Das Gespräch führte Roger Aebli.