Der Grosse Zapfenstreich gehört in Deutschland zum Abschied eines jeden Kanzlers, bei der abtretenden Kanzlerin Merkel ist es natürlich nicht anders. Wie ihre Vorgänger durfte auch sie sich für diese hohe ehrwürdige Militärzeremonie drei Musikstücke wünschen. Gespielt wurden diese am Donnerstagabend von der Militärmusik.
Die wahrlich interessante Auswahl haben die deutschen Medien genüsslich auf die psychoanalytische Couch gelegt, mit der Frage: Was die Kanzlerin damit wohl sagen will?
Zwei grosse Musikerinnen – aus West und Ost – hat sich die mächtigste Frau der Welt ausgesucht. Hildegard Knef, die in jungen Jahren einst im Krieg durch die brennenden Strassen Berlins rannte, erinnerte sich später an ihren gigantischen Hit «Für mich soll's rote Rosen regnen» von 1968:
Ich habe das in einem Moment absoluten Grössenwahns geschrieben, es ist ein hochaggressives Lied: Für mich soll’s rote Rosen regnen, was den anderen passiert, ist mir vor doch völlig egal! Ich habe mich damals mit dem Komponisten Hans Hammerschmid hingesetzt. Er las den Text und fragte mich: ‹Bist du wahnsinnig?! Und ich sagte: ‹Natürlich bin ich wahnsinnig!›
Aus Sicht der Kanzlerin also, die sich ja nie selbst ins Zentrum stellte – ein Stück Selbstironie.
Bodo Mrozek, Berliner Historiker am Institut für Zeitgeschichte, hört aber noch anderes raus: «Hildegard Knef war vielleicht die deutsche Diva nach 1945.» In einer Zeile von ‹Für mich soll’s rote Rosen regnen» macht der Historiker auch eine konservative Vokabel aus, in der sich die Christdemokratin Merkel widerspiegelt:
Ich möcht' verstehen, viel sehen, erfahren, bewahren.
Und noch andere Untertöne schwingen für den Historiker mit, wenn die Zeilen der Diva auf die scheidende Kanzlerin treffen:
Mich fern vom alten neu entfalten, von dem, was erwartet, das meiste halten.
Der Historiker interpretiert: «Man kann das so sehen, dass Merkel Bilanz zieht und sagt: ‹Die meisten meiner Versprechen habe ich mich immerhin bemüht zu halten.›»
Für jene, die noch wissen, was eine Schallplatte ist, hat der ausgewiesene Popexperte noch einen «Fun Fact», wie er sagt: «Auf der B-Seite der Single war übrigens der Song: ‹Von nun an geht’s bergab.» Diese Kehrseite der Medaille hat die Kanzlerin natürlich nicht gewählt. Es steht auch hoffentlich nicht zu befürchten, dass es bergab geht – nicht für das Land und nicht für die Kanzlerin.»
Punk-Ikone zum Zapfenstreich
Bei ihrem Zapfenstreich setzt Angela Merkel aus dem ostdeutschen Brandenburg noch auf eine zweite Diva: Nina Hagen. 1974 allerdings noch nicht ganz so schrill, wie später, aber nicht minder keck:
Für Angela Merkel sei diese Wahl zwar erst einmal überraschend, sagt Historiker Mrozek. Mit Blick auf die Geschichte des Songs sei das Ganze aber «stark konzeptuell durchdacht: Das Stück ‹Du hast den Farbfilm vergessen› spielt auf der Hiddensee, die in der DDR eher den Parteibonzen vorbehalten war. Das Lied thematisiert ja implizit die Mangelwirtschaft in der DDR. Farbfilm war damals kaum zu kriegen.»
Das Stück sei geradezu paradigmatisch für die DDR, sagt der Autor des Buchs «Pop, Jugend und Kultur – eine transnationale Geschichte». Nina Hagen schreibt in ihrer Autobiografie über den damaligen Chart-Hit:
Wahrscheinlich muss man in der DDR geboren sein, um all die Anspielungen und manchmal recht derben Bezüge zu verstehen, die dieses Lied zur heimlichen Nationalhymne einer ganzen Generation machten. Das Lied trieft vor Ironie. Es ist Schlager durch Zerstörung von Schlager.
Wenn also die Militärmusik die Merkel'sche Selektion zum Besten gab, dann wurde selbstverständlich jede Zuckung der langjährigen Kanzlerin beobachtet, ob da nicht etwa ein Tränchen der Rührung sich zeigte, so, wie vor 16 Jahren bei ihrem Vorgänger «Basta-Kanzler» Schröder – der sich mit Frank Sinatra selbstbeweihräucherte.
Wie anders zeigt sich da Angela Merkel mit Hildegard Knef, Nina Hagen – und «Grosser Gott, wir loben dich»: «Man kann hier eine Art Demuts- oder zumindest Bescheidenheitsgeste erkennen», schliesst Mrozek. «Die Kanzlerin lässt sich selbst zwar rote Rosen regnen, verzichtet auf den Farbfilm und bedankt sich mit dem Lobgesang zum Abschied.»