Die Tonalität zwischen London und Brüssel hat sich hörbar verbessert. Von Freundschaft, Respekt und Vertrauen war die Rede. Man habe ein neues Kapitel aufgeschlagen, versicherten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Premierminister Rishi Sunak heute in Windsor.
In Sachen Nordirland-Protokoll hat Brüssel London die Hand gereicht. Auf unnötige Warenkontrollen von Gütern aus Grossbritannien, die allein für den nordirischen Markt bestimmt sind, wird weitgehend verzichtet.
Umgekehrt liefert London die Daten der Warenflüsse in Echtzeit nach Brüssel. Britische Medikamente, Rosenstöcke oder Postpakete können wieder ohne jegliche Zollformalitäten nach Nordirland gelangen.
Stunde der Wahrheit für die Unionisten
Die umstrittene Frage, wie die Ausfuhr von Tomaten und Würsten von Grossbritannien nach Nordirland geregelt ist, mag angesichts der aktuellen Weltlage leicht seltsam erscheinen. Innenpolitisch ist die Klärung dieses Problems jedoch entscheidend. Nordirland hat deswegen bis heute keine funktionierende Regierung.
Aus Unzufriedenheit mit dem Nordirland-Protokoll boykottieren die probritischen Unionisten die Regierungsbildung in Belfast seit bald einem Jahr. Die Stunde der Wahrheit schlägt deshalb nun ihnen. Die Unionisten werden die «redigierte Fassung» des Nordirland-Protokolls deshalb wohl besonders genau lesen.
Alles, was für sie nur entfernt nach Grenze, Warenkontrollen oder EU-Normen tönt, bezeichneten sie bisher als «Kolonialismus» und «demokratisches Defizit». Dabei geht gelegentlich vergessen, dass die Weigerung der Unionisten, sich an einer Regierung zu beteiligen, zurzeit wohl das grösste politische Defizit in Nordirland darstellt.
Die Hardliner schauen mit Argusaugen zu
Widerstand droht dem britischen Premierminister Sunak aber auch aus den eigenen Reihen. Brexit-Hardliner um Boris Johnson haben bereits in den vergangenen Tagen ihr Missfallen kundgetan.
Dabei ist Johnson wesentlich für die politische Lähmung in Belfast mitverantwortlich. Es war der damalige Premierminister Johnson, der den probritischen Unionisten einst versprochen hat, dass es zwischen Nordirland und Grossbritannien nie Warenkontrollen geben wird.
Kurze Zeit später hat Johnson mit der EU ein Brexit-Abkommen unterschrieben, das exakt solche Warenkontrollen vorsah. Als er realisierte, dass der Vertrag tatsächlich umgesetzt wird, beklagte sich Johnson bitterlich. Eilends schaffte er ein Gesetz, das es der britischen Regierung erlaubt hätte, diese Warenkontrollen einseitig aufzuheben.
Die Lehre vom «reinen Brexit» und die Absturzgefahr
Umsetzen konnte Johnson das Gesetz nicht mehr, weil er wenig später wegen verschiedener Lügen aus dem Amt gejagt wurde.
Trotzdem verlangen er und seine Anhänger bis heute eine kompromisslose Umsetzung des Brexits. Dieser ist längst kein politisches Programm mehr, sondern eine Glaubensfrage. Jede Abweichung von der reinen Lehre wird als Verrat gedeutet und kann zum Amtsverlust führen.
Rishi Sunak wäre nicht der erste Premierminister, der in Westminster am Brexit scheitert.