Viele Länder wurden von der Pandemie überrascht und haben restriktive Massnahmen beschlossen. Ihre Regierungen beriefen sich auf Notstandsgesetze. Belgien, Italien und Spanien werden zurzeit via Notstandsgesetz regiert. Astrid Epiney, Rektorin der Uni Freiburg und Professorin für Europa- und Völkerrecht, spricht über die Problematik, die dies aufwirft.
SRF News: Ist – trotz Notstandgesetzen – nun nicht alle Macht beim jeweiligen Staat?
Astrid Epiney: Nein. In den genannten Ländern gibt es rechtsstaatliche Strukturen. Es gibt eine Gewaltenteilung und Gerichte. Man kann daher nicht sagen, dass jetzt die Regierungen alle Macht haben.
Ob immer in allen Situationen in allen Staaten alles optimal eingehalten wurde, lässt sich schwer beurteilen.
Die Regierungen müssen sich an die verfassungsrechtlichen Vorgaben halten. Sie müssen auch grundrechtliche Garantien beachten. Das impliziert insbesondere auch die Verhältnismässigkeit der Massnahmen. Ob immer in allen Situationen in allen Staaten alles optimal eingehalten wurde, lässt sich schwer beurteilen. Aber wir waren, respektive sind, in einer ausserordentlichen Situation.
Belgien, Italien, Spanien werden seit bald zwei Jahren via Notstandsgesetz regiert. Gibt es eine zeitliche Beschränkung, an die sich die Staaten halten müssen?
Bedenklich ist sicherlich, wenn man noch Jahre mit der Notstandsgesetzgebung der Pandemie weiter Rechnung zu tragen versucht. Grundsätzlich kann man sagen, je länger dies andauert, desto bedenklicher ist es in Bezug auf Gewaltenteilung und demokratische Rechtsstaatlichkeit. Das Schweizer Parlament hat das Covid-Gesetz verabschiedet. Das zeigt: Es ist durchaus machbar.
Gibt es eine Grenze, die ein Notstandsgesetz nicht überschreiten darf, weil sonst die Verfassung gebrochen wird?
Auch die Notstandsgesetzgebung muss sich an die verfassungsmässigen Vorgaben halten. Alle genannten Länder kennen Grundrechtskataloge und sind an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Diese Garantien müssen sie in jedem Fall beherzigen.
Auch die Menschenrechtskonvention geht davon aus, dass es Notstandslagen geben kann.
Es ist auch zu beachten, dass es in der Europäischen Menschenrechtskonvention auch notstandsfeste Menschenrechte gibt, zum Beispiel das Folterverbot. Diese Tatsache impliziert, dass auch die Menschenrechtskonvention davon ausgeht, dass es Notstandslagen geben kann. Es ist etwas anderes, ob man eine Maskenpflicht bei Veranstaltungen vorsieht oder ob man Schulschliessungen einführt. Je nachdem sind die Rechte der Bürgerinnen und Bürger mehr oder weniger stark betroffen. Das wirkt sich auf die Frage aus, ab wann es rechtsstaatlich bedenklich wird.
Wann wird es bedenklich?
Wenn schwerwiegende Grundrechtseingriffe über längere Zeit andauern, ohne dass das Parlament sich dazu äussern kann. Mit der Keule des Diktatur-Vorwurfs muss man hier aber sehr vorsichtig sein.
Es ist letztlich fehlender Respekt gegenüber den Menschen in diesen Länder, wenn man im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung von Diktatur spricht.
Wir müssen nur etwas nach Osten schauen, zum Beispiel nach Weissrussland oder in ähnliche Länder. Ich glaube, es ist letztlich fehlender Respekt gegenüber den Menschen in diesen Ländern, wenn man im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung von einer Diktatur spricht. Teilweise wird ja relativ undifferenziert von diktatorischen Massnahmen oder gar Diktaturen gesprochen.
Unbestritten ist, dass Notstandsgesetze eine Machtfülle ermöglichen. Der Demokratie werden sie aber nicht gefährlich?
Ich jedenfalls sehe derzeit in Europa keine solche Gefahr. Sie können gefährlich werden, wenn die Notstandsgesetzgebung zum Courant normal wird, d.h. wenn sie Massnahmen erlaubt, die zeitlich nicht befristet sind und wenn das Parlament ausgeschaltet wird.
Das Gespräch führte Rino Curti.