- Das türkische Parlament hat nach dem Attentat von Silvester mit 39 Toten den Notstand um weitere drei Monate verlängert.
- Der Ausnahmezustand war nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli ausgerufen worden. Er erlaubt Erdogan, das Parlament zu umgehen.
- Trotzdem befürchtet der türkischstämmige Professor Kerem Öktem, die Sicherheitskräfte könnten die Lage bald nicht mehr im Griff haben.
SRF News: Wie ist das Sicherheitsempfinden in der Türkei?
Kerem Öktem: Die Stimmung im Land ist sehr schlecht. Jeder hier hat mittlerweile begriffen, dass jederzeit und überall ein Anschlag verübt werden kann – sei es nachts, auf der Strasse oder an einer Demonstration. Man stellt sich die Frage, ob die Sicherheitskräfte überhaupt noch Herr der Lage sind. Notstand hin oder her.
Warum wird der Notstand verlängert, obwohl er die Sicherheit im Land kaum verbessert?
Mittlerweile ist offensichtlich, dass Präsident Erdogan und seine Partei, die AKP, nicht mehr in der Lage sind, das Land mit rechtsstaatlichen Mitteln zu führen. Die Regierung glaubt offenbar, dass dies nur noch unter Aussetzung des Rechtsstaats und mit Hilfe von Gewalt geht. Das Szenario für die Türkei entwickelt sich langsam in Richtung eines «Failed State», eines scheiternden Staates, bei dem sich der Staatsapparat quasi selber entmachtet hat. Dies zu akzeptieren ist für die Regierung allerdings sehr schwer. Nötig wäre jetzt ein Schritt zurück, vielleicht Neuwahlen und eine Übergangsregierung, die in dieser Notstandsituation die Rückkehr zu geordneten Verhältnissen ermöglichen würde.
Erdogan und seine AKP sind nicht mehr in der Lage, das Land mit rechtsstaatlichen Mitteln zu führen.
Erdogan hat Zehntausende Oppositionelle und Kurden ins Gefängnis gesteckt. Geht er auch so entschieden gegen IS-Anhänger vor? Dies hatte er zu einem früheren Zeitpunkt ja versprochen?
Es stellt sich zuallererst die Frage, ob das, was Erdogan möchte, überhaupt noch Bestand hat. Es ist nicht sicher, ob es noch einen ausreichend organisierten Staat gibt, der Erdogans Wünsche ausführen kann. Zudem gibt es in der türkischen Regierung – trotz aller Kritik am sogenannten Islamischen Staat – auch Sympathien für diesen und die dschihadistischen Aktivitäten des IS. So werden etwa jene Attentate, die der IS verübt, von der Regierung ganz anders angegangen als solche der PKK. Wenn letztere einen tödlichen Anschlag verübt, gibt es eine unheimlich starke emotionale Aufwallung in den regierungsnahen Medien. Die PKK wird dann als schreckliche Terrororganisation dargestellt – was natürlich nicht jeder Grundlage entbehrt. Allerdings sind die Reaktionen nach Attentaten des IS viel zurückhaltender. Offenbar gibt es innerhalb der Regierung Teile, die nicht ganz so schlechte Beziehungen zum «Islamischen Staat» zu haben.
Ein Anschlag folgt dem anderen, die Türkei wird immer unsicherer. Muss sich Erdogan bald zwischen einem Verlust seiner Macht und der effizienten Bekämpfung des IS entscheiden?
Das ist gut möglich. Es stellt sich bloss die Frage, inwieweit Erdogan überhaupt die Kontrolle über die Sicherheitsinstitutionen und den Machapparat hat.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.