Seit Jahrzehnten liegt über Europa ein unsichtbarer Schirm – nicht aus Stahl, sondern aus Uran. Gebaut auf nuklearer Abschreckung, getragen vom Versprechen der USA, im Ernstfall zur Verteidigung Europas auch Atomwaffen einzusetzen. Doch dieses Versprechen wankt.
US-Präsident Donald Trump stellt die Sicherheitsgarantien, die jahrzehntelang als unumstösslich galten, heute offen in Frage. Mehrfach hat er angedeutet, dass er nicht automatisch für Europa einstehen würde – schon gar nicht, wenn die Staaten des Kontinents nicht stärker selbst in ihre Verteidigung investieren.
Auch sein Vizepräsident J.D. Vance liess an der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar keinen Zweifel daran, in welche Richtung die neue Linie Washingtons geht: Europa müsse in den kommenden Jahren deutlich mehr leisten, wenn es sich auf amerikanischen Schutz verlassen wolle.
Die nukleare Rückversicherung der USA, einst Fundament europäischer Sicherheit, wird zur politischen Verhandlungsmasse.
Ein Blick auf die Kräfteverhältnisse zeigt: Die USA und Russland verfügen über jeweils mehr als 5000 Nuklearsprengköpfe. China liegt mit rund 500 Atomsprengköpfen auf Platz drei. Frankreich besitzt rund 290, Grossbritannien 225 – alle anderen Staaten sind abgeschlagen.
Hinzu kommt: Grossbritannien ist auf amerikanische Technologie angewiesen. Zwar kann der Premierminister eigenständig den Befehl zum Einsatz geben, doch Wartung und Modernisierung laufen über die USA. Auch hier gilt: Europa bleibt auf mehreren Ebenen abhängig – militärisch, politisch und technologisch.
Die Abhängigkeit Europas
Die rund 100 bis 150 US-Atomsprengköpfe in Europa gehören alle den USA. Die Trägersysteme, etwa deutsche Kampfjets, werden von einem deutschen Piloten geflogen. Für einen Einsatz braucht es wohl das doppelte Okay: aus Berlin und Washington.
Und genau hier liegt das Problem: Was, wenn Washington künftig «Nein» sagt oder die Waffen ganz aus Europa abzieht? Hat Europa dann überhaupt eine nukleare Antwort?
Ein atomarer Schirm dank Frankreich?
Frankreich wäre die logische Alternative. Präsident Macron hat bereits angedeutet, dass er bereit sein könnte, seine atomare Abschreckung auch europäischen Partnern zur Verfügung zu stellen. Doch dazu bräuchte es eine fundamentale Änderung der französischen Nukleardoktrin.
Denn bisher gilt: Nur der Präsident in Paris entscheidet – und das ausschliesslich zum Schutz Frankreichs. Und falls die rechtsnationale Partei Rassemblement National an die Macht kommt, ist ungewiss, ob ein nuklearer Schutzschirm überhaupt noch für andere europäische Staaten gelten würde.
Glaubwürdige Abschreckung: Weniger ist genug
Trotzdem sieht Jamie Shea, ehemaliger NATO-Stratege, in den französischen Atomsprengköpfen durchaus Potenzial zur Abschreckung. Es brauche nicht dasselbe Arsenal wie Russland oder die USA, so Shea, entscheidend sei ein glaubwürdiges, wenn auch begrenztes nukleares Potenzial. Ein überschaubares, aber modernes Arsenal könne reichen, um Gegner abzuschrecken.
Doch diese Einschätzung ist nicht unumstritten. Politikwissenschaftlerin Liana Fix hält dagegen: Die Lücke zwischen dem, was Frankreich und Grossbritannien an nuklearer Kapazität besitzen, und dem, was die USA leisten können, sei schlicht zu gross, sowohl in Anzahl als auch in der Vielfalt der Waffensysteme. Diese Diskrepanz, so Fix, könne niemals denselben Schutz für Europa bieten wie die nukleare Abschirmung durch Washington.
Die nukleare Balance des Kalten Krieges – brutal, aber effektiv – lasse sich ohne die Vereinigten Staaten kaum aufrechterhalten.
Dazu kommt die Frage der Kosten. Atomwaffen sind teuer – sehr teuer. Jamie Shea, Militärstratege, warnt: In Frankreich und Grossbritannien verschlingen sie rund 20 Prozent des gesamten Verteidigungsetats. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es geht nicht nur um die Sprengköpfe selbst – man braucht auch passende Trägersysteme: Kampfflugzeuge, Raketen, U-Boote. Vor allem Letztere seien laut Shea teurer als die eigentlichen Raketen. Hinzu kommen hohe Anforderungen an Technologie, Wartung und Sicherheit.
Eine solche Infrastruktur aufzubauen, so Shea, würde jedes europäische Land «eine beträchtliche Summe Geld kosten». Und selbst wenn es gelänge: Wer 20 Prozent des Verteidigungsbudgets allein für Atomwaffen ausgäbe, habe am Ende nicht mehr viel übrig – für Soldaten, Panzer oder Flugzeuge.
Polen: Ein neuer atomarer Akteur?
Und dennoch: Die Debatte ist in vollem Gange. Vor allem Polen bringt sich zunehmend als potenzielle Nuklearmacht ins Gespräch. Regierungschef Donald Tusk erklärte Anfang März öffentlich, sein Land müsse sich mit «modernen Fähigkeiten bei atomaren und konventionellen Waffen» ausstatten.
Auch in Deutschland werden Überlegungen laut, zumindest die eigene «nukleare Latenzfähigkeit» zu sichern – also die Voraussetzungen zu schaffen, im Ernstfall eine Atombombe entwickeln zu können.
Der atomare Tabubruch ist in Europa längst keine theoretische Frage mehr.
Europa steht vor einem nuklearen Dilemma: Vertrauen, dass die USA ihre schützende Hand nicht zurückziehen – oder selbst Verantwortung übernehmen.
Frankreichs Angebot könnte der erste Schritt in Richtung europäische Nukleararchitektur sein. Doch der Weg dorthin ist lang, teuer – und voller politischer Sprengkraft.
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