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Marcel Anderwert: Ich bin seit gestern beim geschlossenen Grenzübergang von Röszke/Horgos, auf der serbischen Seite, vor dem ungarischen Grenzzaun.
Sie berichten schon seit Tagen von der serbisch-ungarischen Grenze. Wie haben sich mittlerweile die hygienischen Zustände dort verändert?
Die Lage hier ist schwerig. Es gibt kein fliessendes Wasser. Die Flüchtlinge haben kein Zugang zu öffentlichen Toiletten. Etwa 2000 bis 5000 Personen halten sich vor dem Zaun auf. Teilweise stinkt es stark. Vereinzelt liegt Erbrochenes am Boden. Freiwillige Helfer verteilen unter anderem Windeln und Feuchtigkeitstücher. Aber an der prekären Situation ändert sich dadurch wenig.
Sind die Menschen verzweifelt?
Ich würde eher sagen: überfordert. Die Menschen hoffen, dass Ungarn unter dem Druck der Öffentlichkeit die Grenze irgendwann öffnet. Oder sie warten auf die Busse von Serbien, die die Flüchtlinge nach Kroatien bringen.
Wenn ich von Überforderung spreche, dann kommt mir eine Szene in den Sinn, an die ich immer denken muss: Ein Hilfswerk brachte Esswaren zu einem Verteilungsort. Die Menschen strömten an. Eine junge Mutter erhob sich ebenfalls und rannte zum Hilfswerk. Ihr knapp zweijähriges Mädchen rannte seiner Mutter nach, weinte und schrie hysterisch: «Mamma, Mamma.» Die Kleine hatte panische Angst, ihre Mutter im Getümmel der Flüchtlinge zu verlieren.
Ist der Grenzzaun eigentlich unüberwindbar?
Nein. Vereinzelt ziehen Gruppen von jungen Männern Richtung Westen, wo nur eine Stacheldrahtrolle die Grenze markiert. In der Nacht pirschen sie sich heran und heben den Draht mit einer dicken Decke in die Höhe. In der Nacht gelingt die Flucht auch besser, da es für die ungarischen Patrouillen dann schwieriger ist, die Grenze vollständig zu kontrollieren.
Sie haben vorhin erwähnt, dass die Flüchtlinge darauf hoffen, dass Ungarn unter dem massiven Druck die Grenze öffnet. Ist das realistisch?
Das glaube ich nicht. Die politischen Konstellationen ändern sich natürlich von Tag zu Tag. Vor zehn Tagen flimmerten auf den Bildschirmen die Szenen der Flüchtlinge auf der Autobahn. Unter dem Druck dieser fast biblischen Bilder knickte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein und forderte die ungarische Regierung dazu auf, unbürokratisch zu helfen. Das kam in Ungarn gar nicht gut an. Wenn Merkel und die EU nun wieder Druck auf die ungarische Regierung ausüben, könnte das zum Boomerang werden. Dann würden die Ungarn wohl künftig alle Flüchtlinge ohne Kontrolle direkt weiter nach Österreich und Deutschland schicken.
Die Flüchtlinge sind erstaunlich gut informiert. Wie beschaffen sie sich die Informationen über mögliche Ausweichrouten?
Die Menschen verständigen sich auf Facebook. Dann gibt es wohl auch andere Kommunikationswege, über die sich die Flüchtlinge laufend informieren und austauschen. Die Flüchtlinge kommen immer wieder zu den Medienschaffenden und erkundigen sich nach Gratis-Wlan. Innerhalb der Flüchtlingsdramas hat sich auch ein florierender SIM-Karten-Markt etabliert. Aus Syrien sind vor allem Menschen aus der Mittelschicht unterwegs. Teilweise mit ein paar tausend Euros Ersparnissen, und guter Ausbildung.
Als Reporter befinden Sie sich mitten im Pulk der Flüchtlinge. Wie schaffen Sie es, objektiv zu berichten?
Ich halte mich an zwei Maximen: Erstens möchte ich die Situation vor Ort so realistisch wie möglich weitergeben. Dazu gehören auch emotionale Eindrücke. Andererseits versuche ich die Lage zu analysieren. Ich bemühe mich auch, die ungarische Reaktion zu verstehen. Und das Phänomen dieses grossen Flüchtlingsstroms auf der Balkanroute zu erfassen. Soweit dies möglich ist.