In Deutschland ist die Zahl von obdachlosen Menschen in den letzten Jahren stark gestiegen. Erschreckend dabei ist, dass zunehmend auch Familien mit Kindern obdachlos werden. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass Zehntausende Kinder in Deutschland kein zuhause haben. Adrian Arnold, SRF-Korrespondent in Deutschland, über die Hintergründe dieses Phänomens.
SRF News: Welche sind die Hauptgründe, dass die Zahl obdachloser Familien in Deutschland derart stark angestiegen ist?
Adrian Arnold: Ganz grundsätzlich gibt es zu wenig Wohnraum – vor allem in den Grossstädten. Entsprechend ist er auch teurer geworden. Hauptgrund dafür ist die Zuwanderung. Berlin ist in den letzten zehn Jahren um 350'000 Menschen gewachsen. Dazu sind die Mietpreise rasant gestiegen – in Berlin um 70 Prozent. Und der dritte Grund: Die Zahl der Sozialwohnungen ist zurückgegangen.
Weshalb gibt es weniger Sozialwohnungen?
Der Rückgang der Anzahl Sozialwohnungen hat vor allem mit dem System des sozialen Wohnungsbaus in Deutschland zu tun: Der Staat leiht einem privaten Erbauer sehr günstig Geld, die Wohnungen müssen dann aber an sozial Benachteiligte zu staatlich festgelegten Mieten vermietet werden.
Berlin ist in den letzten zehn Jahren um 350'000 Menschen gewachsen.
Viele Erbauer von Sozialwohnungen haben aufgrund der tiefen Zinsen in den letzten Jahren ihren Kredit beim Staat zurückgezahlt – und sich so von der Verpflichtung, soziale Wohnungen anzubieten, befreit.
Stichwort Zuwanderung: Welche Rolle spielt sie?
Eine zentrale Rolle spielt sicherlich die Zuwanderung aus Osteuropa. Es gibt viel arme Familien aus Osteuropa, die nach Deutschland kommen. Wegen der Personenfreizügigkeit dürfen sie hier zwar leben und arbeiten, haben aber nur unter bestimmten Bedingungen Anspruch auf staatliche Unterstützung – etwa auf die Unterbringung in einer Sozialwohnung.
Eine zentrale Rolle spielt sicherlich die Zuwanderung aus Osteuropa.
Meistens fallen eben genau diese Familien durch dieses Netz durch, weil sie bislang nichts ins deutsche Sozialsystem eingezahlt haben. Auch das Phänomen der «working poor» verstärkt sich – danach sieht es im Moment vor allem in den Grossstädten aus, in Berlin sehr ausgeprägt –, so dass es zu Obdachlosigkeit führen kann.
Ist das Problem politisch nicht eine tickende Zeitbombe?
Es ist vor allem eine traurige Entwicklung, welcher man in Deutschland auch auf politischer Seite mit allen möglichen Mitteln entgegensteuern muss – und auch will. Die deutsche Regierung um Angela Merkel predigt das Credo der sozialen Marktwirtschaft. Da darf es in einem Land mit einem Steuerüberschuss von 60 Milliarden Euro und einer florierenden Wirtschaft sicherlich keine Familien geben, die auf der Strasse übernachten müssen.
Das Gespräch führte Marlen Oehler.