Es ist später Nachmittag. In den Gängen der Schule 127 im Bukarester Rahova-Quartier hallen die Schritte. Kinderstimmen kommen nur noch aus einem Klassenzimmer im Erdgeschoss.
Acht Mädchen und Buben knien um ein Plakat, kleben farbige Zettel in die Äste eines mit Filzstift gezeichneten Baums. Die farbigen Zettel sind Wunschzettel, der Baum ein Wunschbaum.
Alle Kinder hier haben einen Vater, eine Mutter oder beide Eltern, die im Ausland arbeiten. In diesem Klassenzimmer bekommen sie nach der Schule ein warmes Mittagessen, Hilfe bei den Hausaufgaben und psychologische Betreuung.
Der Viertklässler Florin erzählt gerne von seinem Traum, Feuerwehrmann zu werden. Oder von seiner Begeisterung fürs Rechnen. Spricht er von seiner Familie, greift er instinktiv nach dem kleinen Holzkreuz, das er um den Hals trägt, reibt es zwischen Daumen und Zeigefinger. «Mama lebt in Griechenland. Meinen Vater kenne ich nicht. Ich weiss nur, dass er Grieche ist.»
Was die Mutter macht, weiss Florin nicht
Florin lebt zusammen mit zwei älteren Cousins bei seinen Grosseltern, in einem der ärmlichen Plattenbauten im Südwesten der rumänischen Hauptstadt. Mit seiner Mutter telefoniere er täglich, sagt der Elfjährige. Was seine Mutter in Griechenland tut, weiss er trotzdem nicht. Nur, dass sie um sieben Uhr abends zur Arbeit geht.
Sie hat versprochen, sie kommt bald zu Besuch.
Gesehen hat der Viertklässler seine Mutter zuletzt vor drei Jahren. Als seine Tante ermordet wurde, kam seine Mutter zur Beerdigung. «Stimmt schon, in letzter Zeit war sie selten da», sagt Florin. «Aber sie hat versprochen, sie kommt bald zu Besuch.» Er hofft auf Weihnachten.
Leonard Andreescu leitet in Rahova für die Hilfsorganisation Save the Children das Programm für «Copii singuri acasa», das sich an «Allein-Zuhause-Kinder» richtet. Florin kennt er seit sechs Jahren, seit dessen Mutter Rumänien verlassen hat.
«Sie hat Florin zurückgewiesen», sagt der Sozialarbeiter. «Damit umzugehen ist sehr schwierig für ihn. Die Grosseltern, bei denen er lebt, sind mit ihm und seinen beiden Cousins völlig überfordert. Der Grossvater ist halbseitig gelähmt, die Grossmutter geistig eingeschränkt.»
Kinder wie Florin wirkten auf den ersten Blick wie andere Kinder, sagt der Sozialarbeiter. «Aber in ihren Augen siehst du die Traurigkeit. Die meisten von ihnen glauben, an ihnen sei etwas falsch. Deshalb hätten sie ihre Eltern verlassen.»
Andreescu will den Kindern hier nach der Schule ein bisschen Halt geben. «Wenn es nur schon gelingt, dass sie nicht die Schule abbrechen, ist das ein Erfolg», sagt er. Allerdings gibt es das Angebot nur für Kinder bis zur vierten Klasse. Für mehr fehle das Geld, das Personal und die Unterstützung der Behörden: «Eltern im Ausland wählen nicht auf lokaler Ebene. Deshalb interessieren sich Lokalpolitiker nicht für deren Kinder.»
Schätzungen zufolge haben über 300’000 Kinder in Rumänien mindestens einen Elternteil im Ausland. Viele kommen aus ärmeren Familien. Ihre Eltern arbeiten auf Baustellen, in der Gastronomie oder der Landwirtschaft. Viele können es sich nicht leisten, ihre Kinder mitzunehmen und im Westen für ihre Betreuung zu sorgen.
Der Plan vieler Eltern ist, die Kinder für ein paar Jahre bei den Grosseltern, bei einer Tante oder bei anderen Verwandten zurückzulassen und ihnen mit dem im Ausland verdienten Geld ein besseres Leben zu ermöglichen. «Das klappt selten», sagt Andreescu. Zumindest in den armen Familien, die er betreue, gehe dieser Plan kaum auf.
Besonders schlimm sei, dass den Kindern häufig nicht ausreichend erklärt werde, wieso die Mutter, der Vater oder auch beide weggehen. Diese mangelnde Kommunikation in vielen Familien schaffe viel Leid, sagt der Sozialarbeiter.
Andreescu ist überzeugt, dass sich ein grosses gesellschaftliches Problem für Rumänien zusammenbraut: «Viele dieser ‹Allein-Zuhause-Kinder› haben auch noch als Erwachsene grosse Probleme. Sie haben Mühe, sich in die Gesellschaft einzuordnen, sie finden ihren Platz nicht – nicht im Bildungssystem und später auch nicht auf dem Arbeitsmarkt.»
Inzwischen ist das Klassenzimmer, in dem die «Allein-Zuhause-Kinder» der Schule 127 gespielt haben, leer. Auf einem Tisch liegt noch der Wunschbaum. Ganz unten, nahe bei der Wurzel, klebt Florins Zettelchen. Darauf steht: «Ich wünsche mir, dass Mama zurückkommt.»