Rund 30'000 Menschen mit bosnischem Pass leben in der Schweiz. Gerade die Ostertage sind für viele von ihnen eine Gelegenheit, um Familie und Bekannte in der alten Heimat zu besuchen. In Bosnien-Herzegowina wütet das Coronavirus derzeit allerdings besonders stark.
Die Infektionszahlen sind in den letzten Wochen sprunghaft angestiegen, die Spitäler sind voll. Den offiziellen Fallzahlen könne man aber nicht vertrauen, sagt Journalistin Adelheid Wölfl in Sarajevo. Aussagekräftiger seien die Todesanzeigen vor den Gebetshäusern – und diese würden immer mehr.
SRF News: Wie reagiert die Regierung auf die steigenden Fallzahlen?
Adelheid Wölfl: Unterschiedlich. Ähnlich wie in der Schweiz gibt es auch in Bosnien-Herzegowina einen «Kantönligeist». In den zehn Kantonen gibt es jeweils verschiedene Regelungen. Im Kanton Sarajevo zum Beispiel wurden vor zwei Wochen erstmals Ausgangssperren eingerichtet und nun auch die Restaurants geschlossen.
Das führte dann dazu, dass die Leute in den nächsten Kanton hinausgefahren sind oder in den Landesteil Republika Srpska. Dieses Wirrwarr an verschiedenen Regelungen führt zu einer zusätzlichen Gefährdung und zur Verschlechterung der pandemischen Situation.
Ein landesweiter Shutdown ist nicht in Sicht. Wie begründet das die Regierung?
Der Shutdown kostet viel Geld. Bosnien-Herzegowina ist ein sehr armes Land, viele Leute können es sich nicht leisten, nicht arbeiten zu gehen, weil es dafür auch keine oder fast keine Kompensationen finanzieller Art von den Behörden gibt. Es gibt aber jetzt verschärfte Regelungen. Man sieht, dass man Einhalt gebieten muss, um das Gesundheitssystem nicht in einen totalen Kollaps zu führen. Die Spitäler sind bereits voll. Zuletzt sind binnen eines Tages 73 Personen mit oder am Coronavirus verstorben.
Wie kommen die Verschärfungen bei der Bevölkerung an?
Viele sind verzweifelt, weil sie kein Geld verdienen können. Es gibt viele Leute, die im informellen Sektor, also schwarz oder im grauen Schwarzmarkt, arbeiten. Diese verlieren ihr Geld. Sie wissen nicht, wovon sie ihre Miete bezahlen sollen, wovon sie ihr Essen kaufen sollen. Es sind jetzt immer mehr die Familien, die zu Hilfe eilen, vor allem auch jene Familien, die im Ausland, etwa in der Schweiz, in Deutschland oder in Schweden leben.
Leute, die nur ein Symptom haben, werden gar nicht mehr getestet, weil es an Tests fehlt.
Wie zuverlässig sind die veröffentlichten Fallzahlen eigentlich?
Sie sind nicht zuverlässig. Das hat damit zu tun, dass viel zu wenig getestet wird. Offiziell sind zurzeit 23'000 Personen infiziert. In Wahrheit dürfte die Zahl viel höher sein, denn es gibt kein anderes Land in ganz Europa, wo der Anteil der positiven Tests an allen durchgeführten Corona-Tests so hoch ist wie in Bosnien-Herzegowina. Dieser liegt zurzeit bei über 30 Prozent.
Zum Vergleich: In der Schweiz liegt die Positivrate bei fünf Prozent. Pro tausend Einwohner werden in Bosnien-Herzegowina 224 Tests durchgeführt. In der Schweiz liegt die Zahl doppelt so hoch. Leute, die nur ein Symptom haben, werden gar nicht mehr getestet, weil es an Tests fehlt.
Aussagekräftiger sind die Todesanzeigen, die man vor den Kirchen oder Moscheen in Bosnien-Herzegowina ausgehängt sieht. Diese Todesanzeigen werden immer mehr. Die Sterblichkeitsrate ist eine der höchsten überhaupt in Europa, sie liegt so bei 3.8. Wieder im Vergleich zur Schweiz: Dort liegt sie bei 1.8. Die hohe Sterblichkeitsrate gibt auch Aufschluss darüber, dass viele Menschen einfach nicht ausreichend vom Gesundheitssystem aufgefangen werden.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.