Während der letzten TV-Debatte in Glasgow machte Regierungschefin Nicola Sturgeon klar, wohin die Reise geht, wenn ihre Partei in der kommenden Woche die Wahlen gewinnt: «Wir müssen unsere Nation wieder in Schwung bringen. Dazu gehört, dass die Schottinnen und Schotten über die Unabhängigkeit unserer Nation entscheiden können. Denn nur so können wir sicherstellen, dass nicht Boris Johnson bestimmt, wie unsere wirtschaftliche Zukunft aussieht, sondern die Menschen, die hier in Schottland leben.»
Unterstützt werden die Unabhängigkeits-Träume von den Grünen. Im Königreich verbleiben möchten dagegen Labour, die Liberaldemokraten und die Konservativen.
Droht eine lähmende Debatte?
Wie eine solche Debatte ein Land während Jahren lähmen und spalten kann, hat der Brexit gezeigt. Schottland könnte eine ebenso giftige Kontroverse blühen, meint der Politologe John Curtice.
«Auf dem Höhepunkt der Pandemie sah es so aus, als würde die Zustimmung für die Unabhängigkeit immer mehr steigen. Die Leute hatten den Eindruck, dass ein unabhängiges Schottland besser mit der Pandemie fertig würde. Mit dem Impferfolg der Regierung in London ist diese Wahrnehmung wieder zurückgegangen. Heute ist Tatsache, dass die schottische Bevölkerung in Sachen Unabhängigkeit ziemlich genau 50 zu 50 gespalten ist.»
Schäden nicht zu unterschätzen
Die Kollateralschäden einer Unabhängigkeit sind nicht zu unterschätzen. Die Regierungschefin wird die Frage beantworten müssen, wie sich ein eigenständiges Schottland ohne die Hilfe von Grossbritannien finanzieren lässt. Die Nation wird aus dem Finanzausgleich jedes Jahr mit rund 2000 Franken pro Einwohner unterstützt.
Auch die Geografie wird sich nicht ändern lassen. England wird der nächste und wichtigste Handelspartner bleiben. Bei einer Rückkehr Schottlands in die EU wird eine harte Grenze zu England unvermeidbar sein.
Referendum nur mit britischer Zustimmung
Ein rechtliches Problem ist, dass Schottland ein Unabhängigkeits-Referendum nur mit der Zustimmung der britischen Regierung abhalten kann. Premier Johnson hat bereits angekündigt, dass er eine solche Abstimmung nicht zulassen wird.
Er findet dabei breite Unterstützung – unter anderem bei der ehemaligen Labour-Abgeordneten Gisela Stuart. Dass die Schotten vom Brexit ein Recht für ein Referendum ableiten, ist für sie nicht nachvollziehbar:
«Für mich ist das Brexit-Votum ein Bekenntnis zu einem Vereinigten Königreich und der Abschied von einer Organisation, die unsere Souveränität einschränkt, nämlich der EU. Der Brexit ist ein Bekenntnis zur Freiheit. Aus diesem Grund ist es für mich ziemlich merkwürdig, wenn die Schotten davon reden, frei und unabhängig zu werden und gleichzeitig wieder der EU beitreten wollen. Also eine Union verlassen, um frei und unabhängig zu werden, um dann gleich in die nächste Union einzutreten. Über diesen argumentativen Widerspruch lohnt es sich wohl noch ein bisschen nachzudenken.»
Politische Entscheide gehorchen selten allein den Gesetzen der Logik. Umfragen zeigen, dass die Schottische National-Partei bei den kommenden Wahlen eine Mehrheit erreichen könnte, und dies würde das Vereinigte Königreich ins Wanken bringen.