In Kabul haben in den letzten Tagen im Schatten der weltweiten Corona-Pandemie Vor-Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung stattgefunden. Doch nun haben die Taliban diese Gespräche unterbrochen. Uneinig sind sich die Parteien beim Gefangenenaustausch, der die Grundlage für Frieden legen sollte. Thomas Gutersohn kennt die Einzelheiten.
SRF News: Warum wollen die Taliban nicht weiterverhandeln?
Thomas Gutersohn: Es kam zu Unstimmigkeiten über die Zahl der Gefangenen, die ausgetauscht werden sollten. Dies war eigentlich vorprogrammiert, denn bereits im Abkommen zwischen den Taliban und den USA war die Rede von 5000 gefangenen Taliban, die Afghanistan freilassen müsse. Die afghanische Regierung protestierte schon damals gegen diese Zahl. Sie will die gefangenen Taliban in Tranchen freilassen, abhängig von der Gewalt, die von der jeweiligen Person ausging.
Wie reagiert die afghanische Regierung auf die Ankündigung, die Verhandlungen abzubrechen?
Sie ist sehr verärgert. Sie sagt, das sei ein Vertragsbruch. Die Verhandlungen mit der Regierung waren eine Bedingung des Abkommens mit den USA. Doch dieser Vertrag hat fundamentale Schwächen. Einerseits wurde da über den Kopf der afghanischen Regierung hinweg entschieden und anderseits war die Rede von einer spürbaren Reduktion der Gewalt. Doch die Reduktion von Gewalt ist sehr relativ.
Früher oder später werden die Parteien wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren.
Die Taliban sagen, sie hätten die Gewalt reduziert. Nach Ansicht der Regierung geschah dies jedoch nicht in ausreichendem Umfang. Beide Positionen sind nachvollziehbar. Diese Pattsituation ist aus meiner Sicht eine direkte Konsequenz des schlecht ausgehandelten Abkommens zwischen den USA und den Taliban.
Ist die Hoffnung auf Friedensverhandlungen damit bereits im Keim erstickt?
Diese Friedensverhandlungen haben noch nicht begonnen. Der Gefangenenaustausch war quasi die Vorbedingung für die Friedensverhandlungen; er war gedacht als vertrauensbildende Massnahme, um eine gemeinsame Zukunft für Afghanistan auszuhandeln. Dass diese jetzt gar nicht beginnt, ist einem längerfristigen Frieden nicht zuträglich.
Doch ich glaube, früher oder später werden die Parteien wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren. Denn weder die Taliban noch die Regierung können es sich leisten, ohne Abkommen zu regieren. Das würde im Bürgerkrieg enden.
Ist es so überhaupt möglich, die Corona-Pandemie zu bekämpfen?
Die Pandemie müsste im Moment Thema Nummer eins sein, wie in fast allen Ländern auf der Welt.
Afghanistans Spitäler sind bereits mit Minenopfern, Opfern von Anschlägen und unterernährten Menschen ausgelastet.
Es sind weit über 100’000 afghanische Arbeiter aus Iran zurückgekehrt, seitdem dort die Pandemie ausgebrochen ist. Da haben sich sicherlich viele angesteckt. Zudem sind die Krankenhäuser schon ausgelastet. Sie sind bereits mit Minenopfern, Opfern von Anschlägen und unterernährten Menschen gefüllt. Sie sind nicht in der Lage, noch Tausende Corona-Patienten aufnehmen zu können.
Was weiss man über die aktuelle Corona-Situation im Land?
Man weiss praktisch nichts. Es gibt nicht genügend Tests. Die Regierung ist gefangen im Poker um die Macht im Land, einerseits mit den Taliban, andererseits aber auch intern. Man hat den Eindruck, dass sie das Ausmass der Krise nicht begriffen, geschweige denn Massnahmen dagegen ergriffen hat.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.