In einem Park in der Innenstadt von Jekaterinburg soll eine Kirche gebaut werden. Dagegen demonstrieren in der Grossstadt im Ural hunderte Personen seit mehreren Nächten in Folge bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Der Protest richtet sich nicht gegen die Kirche, sondern gegen das politische System des Landes.
Ein Zaun trennt die Demonstranten von den Polizisten und der Sondereinheit Omon. Auf die Forderung: «Die Polizei sollte auf unserer Seite stehen - der Bevölkerung!» wird mit dem Schlagstock geantwortet. Auf die Forderung der Demonstranten sagte Vize-Gouverneur Sergej Bidonko: «Es gibt keinen Grund die Bauarbeiten zu stoppen. Wir leben in einem Rechtsstaat. Möglicherweise sind unsere Gesetze nicht perfekt. Aber der Bau der Kirche ist legal.» Der Bürgermeister flüchtet sich in Floskeln. Auf ein Gespräch mit den Demonstranten will er sich nicht einlassen.
Demokratie als Inszenierung
Es ist symptomatisch für das politische System Russlands, dass die Lokalregierung nichts zu befürchten hat, selbst wenn sie die Wut der Menschen auf sich zieht. In Jekaterinburg zeigt sich, wie politische Institutionen in Russland lediglich zum demokratischen Schein nach aussen existieren.
Der Bau der Kirche in einem Park an der beliebten Uferpromenade ist längst beschlossene Sache. Wie unabhängige russische Medien berichteten, steht hinter dem Projekt einer der reichsten Geschäftsmänner der Region. Es ist dieses Gefühl der Ohnmacht kein Mitspracherecht zu haben, welches die Menschen auf die Strasse treibt. Unvorstellbar in der Schweiz, gehört es in Russland zum Alltag, dass über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden wird.
Zweifel an der Meinungsfreiheit
Andrej bringt seine Wut auf den Punkt: «Zuerst hat man uns das Recht genommen den Gouverneur zu wählen, dann hat man unseren ehemaligen Bürgermeister entmachtet und jetzt nimmt man uns noch den schönsten Park!». So wie dem jungen Musiker und Student geht es vielen, die seit mehreren Tagen vor dem Zaun demonstrieren. Sein Bruder arbeitet beim russischen Inlandgeheimdienst, weswegen wir seinen Namen hier nicht ausschreiben. «Mein Bruder denkt wir würden Geld dafür erhalten, dass wir gegen den Park protestieren.», erzählt Andrej und schüttelt den Kopf. Der Bruder des Demonstranten steht stellvertretend für den Sicherheitsapparat des Landes. Zu abwegig scheint die Vorstellung für den Bruder Andrejs, dass Menschen freiwillig mitten in der Nacht protestieren, obwohl die Chancen auf Veränderung verschwindend klein sind.
Risse im System
In seinen knapp zwanzig Jahren an der Macht ist es Präsident Wladimir Putin gelungen, jegliche Opposition im Land in die politische Bedeutungslosigkeit zu verbannen. So steht hinter den Demonstranten in Jekaterinburg auch keine Partei, oder organisierte Protestbewegung, welche die Kräfte der Demonstranten bündeln könnte.
Es fehlt den Demonstranten dementsprechend an politischer Schlagkraft. Wenn sie am Zaun rütteln und rufen: «Heute demontieren wir den Zaun - morgen Putin!», so sind noch keine Erschütterungen im Kreml zu spüren. Doch die Risse im politischen System sind unübersehbar. Wladimir Putin hat sich am Donnerstag zum Kirchenbau geäussert und vorgeschlagen eine Umfrage in der Bevölkerung durchführen zu lassen. Andrej hat schon vor Beginn der Umfrage wenig Vertrauen in das Ergebnis.