Wenn Jewgenja mit ihren beiden Freundinnen in der Flamenco-Tanzschule an der Choreographie ihres Protesttanzes feilt, bebt der Linoleum-Boden unter ihren Schuhen. «Ich habe mich nie für Politik interessiert. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich an einer Demonstration teilnehmen würde», erzählt sie kopfschüttelnd.
Was sich seit Anfang Juli in Chabarowsk ereignet, hat nicht nur die Flamenco-Lehrerin politisiert. Seit Wochen ist die ganze Stadt in Aufruhr.
Protest auf Rädern
Zu Beginn des Monats wurde der amtierende Gouverneur der Region Chabarowsk, Sergej Furgal, von vermummten Spezialeinheiten der russischen Untersuchungsbehörden festgenommen. Der 50-Jährige sitzt seither im berühmt-berüchtigten Untersuchungsgefängnis Lefortowo in Moskau. Offiziell wird er von den russischen Untersuchungsbehörden verdächtigt, vor 15 Jahren mehrere Morde in Auftrag gegeben zu haben.
Auf eine erste Schockstarre folgte eine nie zuvor dagewesene Protestwelle in der Stadt Chabarowsk und der gesamten umliegenden Region.
Zum Symbol des Protests wurde ein kleiner, bunt bemalter Imbisswagen, der von seinem Besitzer kurzerhand zum Protestwagen umfunktioniert wurde. Seit in Chabarowsk Tag für Tag demonstriert wird, fährt Rostislaw Burjaku mit Lautsprechern auf dem Dach und Porträtbildern des festgenommenen Gouverneurs durch die Strassen.
Kampf für die eigene Zukunft
Der Kleinunternehmer sieht im Protest die einzig verbliebene Möglichkeit, um für eine bessere Zukunft seiner Familie zu kämpfen: «Ich möchte, dass meine Kinder ein besseres Leben haben als ich. Ein Leben in einem demokratischen Land, in welchem das Gesetz über allem steht. Und für alle die Gesetze gelten.» Das Gefühl der Ohnmacht, den Polizei- und Justizbehörden hilflos ausgeliefert zu sein, wie es Rostislaw beschreibt, kennen viele Menschen nur zu gut in Russland.
In Sergej Furgal sah Rostislaw jemanden, der sich für Kleinunternehmer wie ihn einsetzte. Das Vorgehen der Behörden bei seiner Festnahme und die Art und Weise, wie die Untersuchung bisher ihren Lauf nahm, bestärkt die Menschen in ihrer Solidarität mit dem festgenommenen Gouverneur. Und so, wie sich die Demonstranten mit Rostislaw identifizieren, scheint ihnen auch das Schicksal des kämpfenden Kleinunternehmers sehr vertraut zu sein.
Die Menschen haben meinen Wagen auch umbenannt in Furgal-Mobil. Der Wagen wurde zur ihrer Stimme!
Auf Distanz zu Moskau
Aus den Lautsprechern auf dem Wagendach schallt eine tiefe Männerstimme: «Hier spricht Chabarowsk! Die Wahl der Menschen gehört respektiert!» Rostislaw hat die Protest-Slogans selbst zu Hause am Computer zusammengeschnitten. Die zwei Sätze bringen auf den Punkt, weshalb die Absetzung des Gouverneurs durch Moskau die Menschen vor Ort so schmerzlich trifft.
Aus dem Zentrum gibt man den Menschen zu verstehen, dass ihre Wahl nicht entscheidet, ob jemand im Amt bleibt oder nicht. Die Machtzentrale scheint den Menschen in Chabarowsk bisher nicht einmal den Anschein vermitteln zu wollen, dass sie ihnen zuhört. So entsteht auch bei Rostislaw der Eindruck, dass es bei der Festnahme Furgals um politische Machtkämpfe geht.
Sergej Furgal wurde als Kandidat der nationalistischen Partei «LDPR» vor zwei Jahren aus Protest gegen die Partei «Einiges Russland» von Wladimir Putin gewählt. Auf Furgal folgte eine ganze Reihe von «LDPR»-Gouverneuren, die sich in den Regionen gegen Kandidaten von Putins Partei durchsetzen konnte. In den weniger als zwei Jahren seiner Amtszeit erreichte Sergej Furgal eine ungewöhnlich grosse Popularität. Beliebt machten ihn insbesondere seine Besuche in den entlegensten Gebieten der Region.
Ein Gouverneur wie kein Zweiter
Aus Schweizer Sicht nur schwer nachvollziehbar, leben Politiker in Russland in einer Parallelwelt zur Durchschnittsbevölkerung. Ernsthaftes Interesse an den Problemen, wie es Sergej Furgal den Menschen vermittelte, sind eine Rarität.
Der von Wladimir Putin vergangene Woche eingesetzte Gouverneur entspricht dem Klischee eines russischen Marionettenpolitikers wie aus dem Bilderbuch. Michail Degtjarjow hat keinen Bezug zur Region und seine provokanten Äusserungen befeuern die Ablehnung, die ihm entgegenschlägt, nur noch zusätzlich.
Für die Flamenco-Lehrerin Jewgenja steht ausser Frage, dass sie weiter für Furgal kämpfen will. Auch wenn der Protest stark an ihren Kräften zehrt: «Unserer Mentalität im Fernen Osten Russlands ist davon geprägt, dass wir unter schwierigsten Bedingungen überleben mussten. Wir sind uns einen täglichen Kampf also gewohnt.»
Rostislaw führt seinen Protest in der Zwischenzeit im Untersuchunggefängnis mit Hungerstreik weiter.