In der ehemaligen Sowjetrepublik Kasachstan wird protestiert. Die Proteste schlagen immer mehr in Gewalt um. Hintergrund der Proteste ist eine Erhöhung des Preises für Flüssiggas an Tankstellen. Präsident Tokajew hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Die Regierung ist zurückgetreten. Mittlerweile gehen die Forderungen der Protestierenden weiter, berichtet SRF-Russlandkorrespondent David Nauer.
SRF News: Können Sie uns mehr sagen über den Hintergrund dieser Protestwelle im ganzen Land?
David Nauer: Die Proteste haben in einer sehr armen Region im Westen des Landes begonnen. Der Grund war der gestiegene Preis für Treibstoff für Autos. Dieser lokale Aufstand hat sich innert weniger Stunden auf das ganze Land ausgebreitet. Inzwischen gehen die Forderungen aber viel weiter. Die Menschen wollen Reformen, mehr Gerechtigkeit und vor allem ein Ende des politischen Systems. Die kleine politische Elite lebt in Saus und Braus, während das Leben für die Mehrheit immer schwieriger wird.
Inzwischen gehen die Forderungen viel weiter. Die Menschen fordern Reformen, mehr Gerechtigkeit und vor allem ein Ende des politischen Systems.
Wie reagieren die Sicherheitskräfte?
Unterschiedlich. Es gibt Berichte von zunehmender Gewalt; Polizisten, die zum Beispiel Blendgranaten gegen Demonstrierende einsetzen. Auch Schüsse waren in den letzten Stunden mehrfach zu hören. Gleichzeitig gehen auch die Demonstrierenden zunehmend gewaltsam vor, teils gegen die Polizei. Es brennen mehrere Gebäude, Polizeiautos wurden angezündet. Es gibt auch andere Berichte von Polizisten, die zu den Demonstranten übergelaufen sind, sich ergeben haben. Das ist eine sehr angespannte und uneindeutige Situation.
Kasachstan ist ein autoritärer Staat. Die Regierung ist zurückgetreten. Hat die Führung die Kontrolle verloren?
Noch würde ich sagen, die Führung hat die Kontrolle nicht verloren. Kasachstan hat aber ein sehr eigenartiges politisches System. Die Regierung selbst ist gar nicht wichtig und hat nicht viel zu sagen. Ihr Rücktritt ist nicht so relevant, denn die wahre Macht im Land gehört dem Ex-Präsidenten von Kasachstan, dem 81-jährigen Nursultan Nasarbajew. Er ist der Gründer des unabhängigen Kasachstans und regiert bis heute als eine Art ewiger Landesvater aus dem Hintergrund und zieht von dort aus die Fäden. Die Demonstrierenden wissen das und haben sich deswegen mit dem Rücktritt der Regierung nicht besänftigen lassen.
Haben die Proteste das Potenzial, dass daraus eine ernstzunehmende politische Opposition entsteht?
Ich sehe das im Moment nicht. Das Ganze macht eher den Eindruck, dass hier spontan der Volkszorn explodiert. Es gibt in Kasachstan keine organisierte Opposition, weil Nasarbajew sämtliche potenziellen Konkurrenten ausgeschaltet hat. Es gibt niemanden, der diesen Aufruhr in echten politischen Wandel umbauen könnte.
Was bedeutet die instabile Lage in Kasachstan für Moskau?
Mein Eindruck ist, dass die Russen ziemlich aufgescheucht sind. Sie haben vor einigen Wochen den Konflikt mit der Ukraine an der Westgrenze intensiviert. Jetzt plötzlich brennt es sozusagen im Osten, also in Moskaus Hinterhof. Kasachstan ist für die Russen nicht nur geostrategisch wichtig, sondern auch, weil in Kasachstan viele Russinnen und Russen leben.
Die Mächtigen in Russland fürchten möglicherweise, dass ihnen eines Tages etwas Ähnliches passieren könnte.
Es gibt Stimmen in Moskau, die behaupten, der Westen stünde hinter diesen Unruhen, er wolle eigentlich Russland schaden und solche Dinge. Das ist gelinde gesagt Unsinn. Die Bürgerinnen und Bürger von Kasachstan haben eine Revolte angefangen. Die Mächtigen in Russland fürchten möglicherweise, dass ihnen eines Tages etwas Ähnliches passieren könnte.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.