Dem Land geht es mies: Die Wirtschaft stagniert. Die Infrastruktur ist vielerorts lottrig. Die Korruption ist allgegenwärtig. Und die Beziehungen mit den meisten Nachbarstaaten sind – milde gesagt – angespannt. Trotzdem ist der Langzeit-Staatschef populär. Eine Mehrheit will ihn wieder wählen.
Klar, nicht alle Russen unterstützen Putin. Die Jungen lachen über das «Grossväterchen» im Kreml, Moskauer Intellektuelle träumen von einem liberalen, europäischen Russland. Aber viele Menschen im Land, eine Mehrheit, will doch festhalten an dem Mann, der seit 18 Jahren das Land regiert.
Auf der Suche nach Gründen besuchen wir den Wahlkampfstab von Kandidat Nummer 1: Das Büro liegt in einem Gebäude der Moskauer Stadtverwaltung – man hat schliesslich gute Beziehungen. In den Räumen ist Putin omnipräsent, wenn auch nicht persönlich. Auf Fotos sieht man den Kreml-Chef mit jungen Eishockeyspielern, mit Kriegsveteranen, in freier Natur mit einfachen Bürgern. Die Botschaft ist klar: Putin – das ist der Präsident aller Russen.
Wer etwas will, wendet sich an ihn
Das Wahlkampfteam hat einen speziellen Pressetermin organisiert. Einfache Bürger dürfen vorsprechen, sogenannte «Gewährsleute» von Putin nehmen die Anliegen entgegen. Ein berühmter Komiker ist gekommen, ein ehemaliger Fussballspieler, ein bekannter Zahnarzt. Sie versprechen, die Wünsche weiterzuleiten an den Präsidenten.
Die Stimmung ist lebendig. Eine paar Studenten bitten um finanzielle Unterstützung. Sie wollen an ihrer Universität ein Reha-Zentrum für behinderte Kollegen errichten. Ein junger Mann hätte gerne Geld für ein Sportprojekt im Moskauer Umland, eine Frau wünscht sich, dass der Präsident ihr Kulturzentrum in einer Provinzstadt besucht.
Die Gewährsleute können keine konkrete Hilfe versprechen. Aber der Anlass zementiert den Eindruck: Putin – das ist ein Mann der Tat. Wer in Russland was will, der wendet sich an ihn.
Garant für Glück und Stabilität
Putin-Gewährsmann und Ex-Fussballer Denis Klebanow etwa beschreibt den Staatschef als wahren Superman: «Es ist sehr selten, dass jemand so ist wie Putin. Er hat einen starken Willen, er arbeitet immer auf ein Ziel hin. Jemanden wie ihn kann man nicht brechen, er gibt nie auf.»
Ein anderer Putin-Unterstützer, der Zahnarzt Oleg Januschewitsch, zieht den Vergleich zum Russland von früher, als Putin noch nicht regierte. Er habe schon zu Sowjetzeiten im Gesundheitswesen gearbeitet und gesehen, was damals für Zustände herrschten. Auch in den Neunzigerjahren sei es schwierig gewesen. «Jetzt aber gibt es viele Veränderungen zum Besseren», sagt Januschewitsch. Er habe fünf Kinder und er wolle, dass sie alle ein «glückliches und stabiles Leben» hätten. Garantieren könne dies: Wladimir Wladimirowtisch Putin.
Putin als Symbol für den Staat
Nur eine Metrostation vom Bürgerbüro entfernt liegt das Moskauer «Carnegie Zentrum». Finanziert von einer US-amerikanischen Stiftung brüten hier einige der klügsten Köpfe Russlands darüber, was in diesem Land passiert. Im «Carnegie Zentrum» wird kritisch nachgedacht, das ist auch der Grund, warum die Politologen und Ökonomen lieber hier arbeiten: In rein russischen Think Tanks wird oft erwartet, dass man nicht zu sehr von der Kremllinie abweicht.
Frage an Andrej Kolesnikow, den Innenpolitik-Chef des «Carnegie Zentrums»: warum ist Putin trotz Wirtschaftskrise so populär? «Diese Unterstützung für den Präsidenten ist eher passiv. Für viele Russen hat Putin eine symbolische Bedeutung. Er ist die Personifizierung Russlands.»
Für viele Russen hat Putin eine symbolische Bedeutung. Er ist die Personifizierung Russlands.
Putin steht also über den Dingen. Er ist ein Symbol für den Staat, ja, für Russland. So ein Herrscher ist allmächtig, verantwortlich aber ist er nicht. Kolesnikow sagt, zwar würden sich viele Russen und Russinnen eine Verbesserung der Wirtschaftslage wünschen. Aber die wenigsten machten eine Verbindung zwischen der staatlichen Politik und ihren persönlichen finanziellen Verhältnissen, ihren Sorgen im Alltag. «Die Position von Putin wird deswegen nicht in Frage gestellt.»
Behördenwillkür – ein altes russisches Leiden
Die Unantastbarkeit des obersten Herrschers ist ein alter russischer Reflex. Bei Reisen durch dieses riesige Land hört man immer wieder das Sprichwort: «Gott ist hoch im Himmel, der Zar ist weit weg.» Auch Vitali und Galina Leonidow zitieren diese alte Regel an einem kalten Wintertag in ihrem Bauernhaus. Das Bauern-Ehepaar lebt in Stekljanucha, einem kleinen Dorf in Russlands Fernem Osten. 9000 Kilometer sind es von hier bis nach Moskau.
Die Leonidows haben ein ernsthaftes Problem: Ihr Gemüsegarten, den sie seit über 30 Jahren beackern, soll plötzlich nicht mehr ihnen gehören. «Dabei ernähren wir uns von dem Land. Wir haben eine Rente von 8000 Rubel (umgerechnet 130 Franken). Ohne die Kartoffeln und das Gemüse aus dem Garten kommen wir nicht durch», sagt Vitali Leonidow.
Vor ein paar Monaten allerdings sind plötzlich Männer aufgetaucht und haben der Familie erklärt, der Garten habe nun einen anderen Besitzer. Der Flecken Land wurde als «Fernöstliche Hektare» an jemanden aus der Stadt überschrieben. Leonidows stehen vor dem Nichts.
Das Programm der «Fernöstlichen Hektare» ist eigentlich eine ganz sinnvolle Sache: Russische Bürger erhalten ein Stück brachliegendes Land in der abgelegenen Provinz und dürfen es bebauen. Ziel ist, die Menschen in der Region zu behalten oder sogar Abenteurer aus Westrussland anzulocken, die in der menschenleeren Gegend ein neues Leben aufbauen wollen.
Nur: Leonidows Land ist nicht ungenutzt. Es ist ihr Garten. Unklar ist, ob die örtlichen Behörden einfach geschlampt haben oder ob Absicht dahinter steckt. Zudem gibt es eine Menge ungelöster rechtlicher Fragen. Die Bauernleute haben das Land zu Sowjetzeiten erhalten. Sie hätten es nach neuem, russischen Recht als Eigentum registrieren müssen, dies aber nicht getan. Die Behörden hätten sich quergestellt, sagt Vitali Leonidow als Entschuldigung. «Wenn wir bei den Beamten vorsprechen, behandeln sie uns wie Würmer. Die denken, sie seien eine besondere Kaste, wir sind für die nur Abschaum.»
Behördenwillkür ist ein altes russisches Problem. Gleichwohl könnte man denken, Putin, der allmächtige Präsident, hätte in seinen 18 Jahren an der Macht etwas dagegen unternehmen können.
Das Bauernpaar Leonidow jedoch will den Präsidenten nicht verantwortlich machen. «Putin sitzt in Moskau, er weiss wohl nicht einmal, was hier bei uns in der Provinz für Zustände herrschen», sagt Vitali Leonidow. Eben: der Zar ist fern.
Konkurrenz wird ausgeschaltet
Zufall ist diese überragende – um nicht zu sagen: abgehobene – Stellung von Putin nicht. Sie ist eine Folge gezielter Politik. Putin wacht eifersüchtig darüber, dass es neben ihm keinen anderen gibt. Missliebige Konkurrenz wird seit Jahren ausgeschaltet. Das beste aktuelle Beispiel dafür ist Alexej Nawalny. Der Oppositionspolitiker wollte bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl antreten. Der Mann hat alles, was es für einen echten Politiker braucht: Charisma, den Willen zur Macht – und er kann mit den Menschen so reden, dass sie ihn verstehen.
Nawalny wäre der einzige Kandidat gewesen, der wirklich gegen Putin gewinnen wollte. Er hat als einziger einen richtigen Wahlkampf geführt – schon im vergangenen Jahr begann er im ganzen Land Büros zu eröffnen, hat Unterstützer mobilisiert. Doch zugelassen wurde er nicht zu der Wahl. Begründung: Nawalny sei vorbestraft.
Tatsächlich ist er von einem Provinzgericht wegen Wirtschaftsverbrechen verurteilt worden. Doch das Urteil hat wenig mit Rechtsprechung zu tun. Es ist allem Anschein nach politisch motiviert, einzig darum gefällt, um Nawalny vom Urnengang fernzuhalten.
Der unwürdige Umgang mit dem Oppositionspolitiker lässt die Vermutung aufkommen, dass Putin starke Widersacher fürchtet. Er selber sagte zwar auf einer Pressekonferenz im vergangenen Dezember, die Staatsmacht habe keine Angst vor politischer Konkurrenz. Leute wie Nawalny aber würden das Land destabilisieren. «Und ich bin sicher, dass die Mehrheit der Bürger das nicht will.»
Leute glauben nicht an eine «echte» Wahl
Putin sitzt also im Kreml und weiss, was seine Bürger wollen. Deswegen hat er sich auch das Recht herausgenommen, einen wie Nawalny gar nicht erst auf den Wahlzettel zu setzen.
Für richtig viel Empörung sorgt diese Entmündigung nicht in der russischen Gesellschaft. Nawalny-Unterstützer mögen sich aufregen – doch die Mehrheit der Russen reagiert bloss mit einem Schulterzucken.
Von eine eigentlichen «Apathie» spricht Natalja Sorkaja. Die Soziologin vom unabhängigen Lewada-Institut sitzt in ihrem Büro in einem Moskauer Altbau unweit des Kreml. Von hier aus erforschen sie und ihre Kollegen die Seelenlage der russischen Gesellschaft. «Die Leute verstehen, dass es sich nicht um eine echte Wahl handelt, es geht mehr darum, die Macht Putins zu bestätigen.»
Die Leute verstehen, dass es sich nicht um eine echte Wahl handelt, es geht mehr darum, die Macht Putins zu bestätigen.
Es gebe in Russland eine unterschwellige, chronische Unzufriedenheit, sagt Sorkaja. Aber zu einem organisierten Widerstand ist das Land nicht Lage. Es fehlen schlicht die Anknüpfungspunkte, die Strukturen. Das Parlament ist unter der Kontrolle des Kreml, das Fernsehen ebenfalls, wirklich unabhängige Parteien gibt es nicht und die Zivilgesellschaft wird unterdrückt, wenn sie nicht stramm dem Kurs des Kreml folgt.
Das ernüchternde Fazit von Natalja Sorkaja: «Die russische Gesellschaft ist atomisiert. Jeder lebt für sich allein. Und deswegen sehnen sich viele nach einer starken Hand, welche das Land in diesen unsicheren Zeiten lenkt.»
Und als diese starke Hand empfiehlt sich Wladimir Putin. Am 18. März wird er für sechs weitere Jahre wiedergewählt.