Während der Bundestag über eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes debattiert, haben in Berlin erste Proteste gegen die Corona-Politik begonnen. Die sogenannten «Querdenker» wollen gegen mehr Kompetenzen für die Regierung protestieren. Kundgebungen um den Bundestag wurden allerdings verboten. Rund 2000 Polizeikräfte sind im Einsatz. Der oberste Thüringer Verfassungsschützer Stephan Kramer beobachtet das mit Sorge.
SRF News: Hätten Sie sich auch für ein Verbot entschieden?
Stephan Kramer: Bei den Demonstrationen der letzten Wochen und Monate zeigte sich eine Entwicklung, die Gewalt und Diffamierung in den schlimmsten Formen angenommen hat. Man will heute vorbereitet sein, weil die Mobilisierung auch in den rechtsextremen Milieus sehr stark ist.
Im Moment gehe ich davon aus, dass etwa zwei Drittel normale Bürger sind und ein Drittel gewaltbereite militante Rechtsextremisten und Hooligans.
Zugleich macht es mich traurig, weil das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ein sehr hohes Gut ist und viele Demonstranten sicherlich nur ihren Unmut äussern wollen.
Wie gross ist der Anteil an Rechtsextremen und Anhängern von Verschwörungstheorien bei den Demonstrationen?
Das ist relativ schwierig zu quantifizieren. Im Moment gehe ich davon aus, dass etwa zwei Drittel normale Bürgerinnen und Bürger sind und etwa ein Drittel gewaltbereite militante Rechtsextremisten und Hooligans.
Warum hat die Mitte keine Berührungsängste mit den extremen Rändern?
Wir mussten bisher davon ausgehen, dass das zufällig war. Diejenigen, die früher ausgerufen haben, hatten nichts mit diesen Extremisten im Sinn. Die extremistischen Gruppierungen haben aber sehr deutlich erkannt, dass die Corona-Emotionen sehr geeignet sind, um in die Mitte der Gesellschaft hineinzuwirken. Dazu sind sie bekanntermassen sehr viel lauter.
Mittlerweile kommt hinzu, dass immer mehr Organisatoren keinen Unterschied mehr machen zwischen Reichsbürger-Themen und Verschwörungstheorien wie QAnon, und anscheinend auch überhaupt kein Problem mehr damit haben, wenn der «Dritte Weg», die Rechte oder die NPD mit ihnen gemeinsam Veranstaltungen durchführen wollen.
Haben Normalbürger kein Problem damit, sich mit Extremisten zu zeigen?
Darauf habe ich keine abschliessende Antwort. Die Einzelnen würden wohl sagen, sie wollten mit Rechtsextremisten nichts zu tun haben, aber sich das Recht auf freie Meinungsäusserung nicht nehmen lassen. Ich denke aber, das verschwimmt immer mehr, und man findet immer öfter gemeinsame Kritikpunkte. Etwa, wenn von einer «Corona-Diktatur» die Rede ist.
Oder bei den Forderungen von «Reichsbürgern» hin zur direkten Demokratie, weg von einem Parlament und Parteien. Hier vermischt sich viel, und diese Milieus wachsen wohl jetzt leider mehr und mehr auch zusammen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass die Stimmung der grossen Mehrheit kippt?
Das ist schwer zu sagen. Aber wir erleben gerade, dass Worte wie «Ermächtigungsgesetz» für die Anpassung des Infektionsschutzgesetzes gebraucht werden. Man bekommt den Eindruck, dass die Radikalisierung und der Widerstand gegen Massnahmen in breiten Teilen der Bevölkerung zwar noch nicht überhandgenommen hat, aber immer mehr zunimmt. Und das, obwohl die Bundesrepublik mit flankierenden Massnahmen Instrumentarien hat, die wesentlich besser funktionieren als in anderen Ländern Europas. Trotzdem sieht man leider, dass die Stimmung immer mehr zu kippen droht.
Das Gespräch führte Peter Voegeli.