Die Rakete, die auf polnischem Gebiet einschlug, stammt nach polnischen Angaben aus russischer Produktion. Daraufhin hat das Nato-Mitglied einen Teil seiner Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Russland weist die Berichte als gezielte Provokation zurück. Der Sicherheitsexperte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin schätzt ein.
SRF News: Nato-Territorium wurde getroffen, mutmasslich durch eine Rakete aus russischer Produktion. Wie angespannt ist diese Situation?
Markus Kaim: Sie ist angespannt, das ist nicht zu leugnen. Damit ist ja eigentlich das wahr geworden oder eingetreten, was viele Kritiker oder Beobachter des Ukrainekrieges befürchtet haben; dass es eine militärische Eskalation geben könnte und dass die Gefahr bestünde – und ich wähle jetzt bewusst den Konjunktiv: dass die Nato in den Konflikt hineingezogen würde.
Der Rat wird trotz der Solidarität mit Polen dennoch sehr zurückhaltend sein, Schuld oder Verantwortung zuzuweisen.
Und was erkennbar ist, dass sowohl die polnische Regierung als auch alle anderen westlichen Regierungen, die Mitglied der Nato sind, nun sehr vorsichtig in ihrer Wortwahl sind. Es ist deutlich erkennbar, dass alle auf Deeskalation setzen. Vor allen Dingen deshalb, weil ja auch keine militärische Anlage in Polen getroffen worden ist. In diesem Fall müsste man noch ganz anders über den Vorfall reden.
Dass es eine Rakete aus russischer Produktion war, ist aus Ihrer Sicht auch die plausibelste Version?
Ich würde es so sagen: Es waren – glaube ich – keine anderen Raketen unterwegs. Dementsprechend ist es nachvollziehbar, dass es eine Rakete aus russischer Produktion gewesen sein könnte oder gewesen ist, ohne dass ich jetzt mit den technischen Details vertraut bin. Aber es gibt ja auch nur zwei Akteure, die Raketen einsetzen.
Es könnte sein, dass es eine Rakete war, die von ukrainischer Seite abgeschossen wurde, also von der Luftabwehr.
Genau das ist die zweite Theorie, der sich die Nato-Staaten heute, auch wenn ich das so sagen darf, freudig hingeben. Angesichts der Tatsache, dass ich die Maxime habe, dass die Nato kein Interesse hat, in diesen Konflikt hineingezogen zu werden, kein Interesse daran hat, den Konflikt auf Nato-Territorium zu eskalieren, wird heute der Nato-Rat in einer Sondersitzung zusammentreten und seine Besorgnis ausdrücken. Der Rat wird trotz der Solidarität mit Polen dennoch sehr zurückhaltend sein, Schuld oder Verantwortung zuzuweisen.
Das ist ein gängiges Prozedere, und das ist deutlich zu trennen vom berühmten Artikel fünf, dem Beistands-Artikel.
Das Signal hat der amerikanische Präsident in seinem ersten Statement am G20-Gipfel aus Bali gesetzt, in dem er doch sehr deutlich die Tonalität angeschlagen hat, dass die Ursachen aufgeklärt werden müssten. Es gebe eine strittige Berichterstattung und er sähe das noch lange nicht, dass die Rakete von russischem Territorium gestartet sei.
Vieles ist noch unklar. Dennoch erwägt Polen, den Artikel vier des Nato-Vertrags zu aktivieren. Polen überlegt sich also, ob es wegen einer Bedrohung die anderen Nato-Länder konsultieren soll. Wie ist das einzuschätzen?
Das ist ein gängiges Prozedere, und das ist deutlich zu trennen vom berühmten Artikel fünf, dem Beistands-Artikel. Wir sind noch nicht an dem Punkt, dass Polen militärischen Beistand erbittet, sondern politische Konsultation. Polen bittet um eine politische Reaktion der Nato, auch als Signal an Russland und die internationale Gemeinschaft. Aber das ist eigentlich nicht mehr als diplomatischer Alltag.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.