«Diese Strasse ist nach Emmett Till benannt», sagt Wheeler Parker Jr. und zeigt auf eine Strassentafel. Der 84-Jährige fährt durch Summit, einen Vorort von Chicago. Vieles hier erinnert an seinen Cousin. Zum Beispiel eine Gedenktafel, dort, wo einst Tills Haus stand: Es zeigt den schwarzen Jungen, wie er lässig auf seinem Fahrrad sitzt und in die Kamera lacht. «Er hatte nie einen langweiligen Tag», sagt Parker über seinen Cousin. «Er hatte immer Spass, hat versucht, uns zum Lachen zu bringen. Er hat ständig gestottert und doch stand er immer im Mittelpunkt.»
Parker und Till waren Cousins und in Summit, wo sie Nachbarn waren, wurden sie zu besten Freunden. Ihre Familien stammten aus dem südlichen Bundesstaat Mississippi, wo sie Baumwolle pflückten. Millionen von Schwarzen verliessen in der «Grossen Migration» den Süden und suchten ein besseres Leben in Städten wie Chicago. Viele zog es auch nach Summit, wo eine Fabrik Arbeitsplätze bot. Die Umsiedlung in die Städte war ein Weg, um dem Rassismus des tiefen Südens zu entkommen: Die Sklaverei war vorbei, doch Rassentrennung, Entrechtung und Unterdrückung waren an der Tagesordnung. Und: Der Süden war berüchtigt für Lynchmorde.
Wheeler Parker hatte seine ersten Jahre in Mississippi verbracht. Er wusste: Schwarze mussten sich dort stets unterwürfig zeigen: «Schwarze Männer, die am Leben bleiben wollten, mussten wissen, wie sie sich zu benehmen hatten. Nur schon, wenn man eine weisse Frau anschaute, konnte man dafür umgebracht werden. Niemand hätte etwas dagegen unternommen. Wer nicht zu dieser Zeit als Schwarzer im Süden lebte, hat keine Ahnung, wie das damals war.»
«Wie viel hat er wirklich begriffen?»
Im Sommer 1955 besucht Parker seinen Grossvater in Mississippi. Emmett Till besteht darauf mitzugehen – und kann seine Mutter überreden. Es ist für ihn eine Reise in eine unbekannte, zutiefst rassistische Welt. Die Stimmung im Süden ist aufgeheizt, denn die Weissen sehen ihre Lebensweise bedroht: Der Oberste Gerichtshof hat vor Kurzem geurteilt, dass die Rassentrennung an öffentlichen Schulen verfassungswidrig sei.
Meine Grossmutter rannte zu den weissen Nachbarn. Sie halfen uns auch nicht.
Mamie Till-Mobley erklärt ihrem Sohn in einer Art Crashkurs, wie er sich zu verhalten hat. Doch er frage sich, wie viel davon Emmett wirklich begriffen habe, sagt Wheeler Parker. Jedenfalls passiert in Mississippi etwas, worüber bis heute spekuliert wird. Am 24. August 1955 fährt eine Gruppe Jugendlicher, darunter Parker und Till, zu einem kleinen Lebensmittelgeschäft. Dort arbeitet Carolyn Bryant, die das Geschäft zusammen mit ihrem Mann führt.
Vor Gericht wird die junge, weisse Frau später behaupten, Emmett habe anzügliche Dinge zu ihr gesagt, habe sie an der Hüfte gepackt. Vor dem Geschäft hört Wheeler Parker, wie sein Cousin, der quirlige, stets zu Spässen aufgelegte Junge aus Chicago, pfeift, als Bryant aus dem Laden kommt. Die Jugendlichen fürchten, Bryant sei drauf und dran, eine Waffe zu holen – und machen sich aus dem Staub.
«Es war ein Albtraum»
Mehrere Tage lang geschieht nichts. Doch dann kommen sie: Roy Bryant, der Ehemann der jungen Frau, und sein Halbbruder J.W. Milam. Mitten in der Nacht, um etwa 2:30 Uhr, stehen sie vor der Tür von Moses Wright. Wheeler Parker liegt im Haus seines Grossvaters im Bett, als die beiden, mit Taschenlampe und Pistole, ins Haus eindringen.
«Es war ein Albtraum und ein grosses Gefühl der Hilflosigkeit», erinnert er sich. «Ich wusste, dass mein Grossvater mir nicht helfen konnte. Meine Grossmutter rannte zu den weissen Nachbarn. Sie halfen uns auch nicht.» Parker ist überzeugt, dass er sterben wird. Er wendet sich verzweifelt an Gott und betet. Grossvater Wright hört in der Dunkelheit noch eine andere Stimme, aus dem Auto der beiden Männer. Womöglich ist es Carolyn Bryant, die mitkam, um Till zu identifizieren.
Es hat mich ein Leben lang frustriert, wie Emmett dargestellt wurde.
Die beiden Männer entführen ihn und fahren mit ihm fort. Der 14-Jährige wird gefoltert. Und ermordet. Seine Leiche wird mit einem Gewicht um den Hals in einen Fluss geworfen, wo sie Tage später gefunden wird. Wheeler Parker flüchtet regelrecht aus dem Süden. So schnell wie möglich fährt er mit dem Zug zurück nach Chicago. Er hat überlebt, aber sein Cousin wurde das Opfer eines Hasses, der heute nur noch schwer vorstellbar ist. Bis heute kämen ihm manchmal die Tränen, wenn er davon erzähle, sagt Parker.
Freispruch und Empörung
Mamie Till-Mobley beschliesst, der ganzen Welt zu zeigen, was der Rassismus in Mississippi anrichtet. Bilder der grauenvoll entstellten Leiche ihres Sohnes erschienen in der Presse. Zehntausende sehen den offenen Sarg, der in einer Kirche in Chicago der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Der Schock und die Empörung über die Gewalt, die einem 14-Jährigen angetan wurde, fachen die Bürgerrechtsbewegung an.
Das hat auch mit dem Prozess gegen die Täter zu tun. Vermutlich waren noch andere am Lynchmord beteiligt, doch nur Bryant und Milam werden angeklagt. Emmetts Mutter wagt sich trotz einer sehr feindseligen Atmosphäre in den Gerichtssaal, genauso wie schwarze Journalisten, die über den Prozess berichten. Auch Moses Wright, der Grossvater von Wheeler Parker, tritt in den Zeugenstand, obwohl er um sein Leben fürchten muss. Ein schwarzer Fotograf schiesst heimlich ein Foto, als Wright mit grossem Mut das Unerhörte tut: Stehend und mit ausgestrecktem Arm zeigte er auf die beiden Täter.
Doch in Mississippi dürfen Schwarze nicht auf Gerechtigkeit hoffen: Bryant und Milam werden von einem weissen Geschworenengericht freigesprochen. Kurze Zeit später lassen sie sich für ein Interview bezahlen, in dem sie ihre Tat gestehen.
Und auch Carolyn Bryant kommt ungeschoren davon. Dabei habe sie doch gelogen, sagt Wheeler Parker. Ihre Geschichte der sexuellen Belästigung stimme nicht. «Ich habe immer gehofft, sie würde irgendwann die Wahrheit sagen. Es hat mich ein Leben lang frustriert, wie Emmett dargestellt wurde. Bis heute sagen manche, er habe doch sicherlich etwas getan.»
Wir können mit Gesetzen dafür sorgen, dass sich die Menschen besser verhalten. Ihre Herzen können wir aber nicht verändern.
Ein Historiker behauptete 2017, Carolyn Bryant habe ihm gegenüber ihre Geschichte widerrufen. Doch die Beweise dafür fehlen. Bryant hat die Wahrheit mit ins Grab genommen: Im letzten Frühling ist sie gestorben. Für die Entführung und für den Mord wurde also nie jemand zur Rechenschaft gezogen. Die Bundespolizei FBI hat den Fall 2021 geschlossen.
Ein Symbol – heute noch
Der Mord an Emmett Till wurde zu einem Schlüsselmoment der Bürgerrechtsbewegung. Und bis heute ist er ein Symbol für die schlimmsten Auswüchse des Rassismus in den USA. Ein Bundesgesetz von 2022, das Lynchjustiz (endlich) als Hassverbrechen einstufte, trägt seinen Namen. Doch auch wenn die Bürgerrechtler viel erreicht haben: Die USA konnten den Rassismus nie abschütteln – und Emmett Tills Geschichte bleibt auch nach fast 70 Jahren bedrückend aktuell. Immer noch werden Schwarze Opfer rassistischer Gewalt.
So wie George Floyd, der 2020 von einem weissen Polizisten ermordet wurde. Marvel Parker, die Ehefrau von Wheeler Parker, ist die Direktorin des «Emmett Till & Mamie Till-Mobley Institute». «Rassismus ist eine Realität, die nicht einfach verschwindet», sagt sie. «Wir können mit Gesetzen dafür sorgen, dass sich die Menschen besser verhalten. Ihre Herzen können wir aber nicht verändern.»
Schwarze Mütter müssten ihren Söhnen heute noch erklären, wie sie sich zu verhalten haben, um am Leben zu bleiben – etwa, wenn sie von der Polizei angehalten werden. So wie Mamie Till-Mobley, die ihren Sohn instruierte, bevor er in den Süden fuhr.
Gedenkstätten für künftige Generationen
Wheeler Parker, der in der Schreckensnacht in Mississippi verzweifelt betete, ist Pfarrer geworden. Reverend Parker ist Pastor einer Kirche in Summit, wo so vieles an seinen Cousin erinnert. Lange Zeit habe sich niemand für seine Version der Geschichte interessiert, sagt der 84-Jährige, als er sich im Stuhl in seinem Büro zurücklehnt und erzählt.
Über Emmetts Geschichte und über den langen Kampf um Gerechtigkeit für seinen Cousin hat er ein Buch veröffentlicht. Emmetts Mutter ist 2003 gestorben und Parker hat quasi die Verantwortung übernommen für das Andenken seines besten Freundes. An der Wand seines Büros hängt ein Foto: Parker mit Joe Biden im Weissen Haus.
Der US-Präsident hat dieses Jahr drei Orte zu einer nationalen Gedenkstätte gemacht: Der Ort, wo Emmett Tills Leiche gefunden wurde, die Kirche in Chicago, wo sein offener Sarg zu sehen war, und das Gerichtsgebäude, wo die Täter freigesprochen wurden. Diese Orte werden die Amerikanerinnen und Amerikaner noch lange an die Geschichte von Emmett Till erinnern – auch wenn der letzte Augenzeuge sie einst nicht mehr wird erzählen können.