Schätzungsweise 30 Millionen Kurden leben im Nahen und Mittleren Osten. Die Volksgruppe gehört zu den ältesten im ganzen Orient. Die Kurden sprechen eigene Sprachen, haben eine eigene Geschichte, aber keinen eigenen Staat. Auch wenn sie seit Jahrzehnten dafür kämpfen.
Das Siedlungsgebiet der Kurden erstreckt sich vom Iran über den Irak und die Türkei bis nach Syrien. In den Ländern, die nach dem 1. Weltkrieg mehrheitlich aus dem Osmanischen Reich hervorgegangen sind, bilden sie ausnahmslos eine Minderheit. Seit den Grenzziehungen von damals fühlten sich die Kurden, so SRF-Korrespondent Philipp Scholkmann, als «das vergessene Volk».
Man spricht von der Jahrhundertchance, auf den Trümmern des Terror-Kalifats an der eigenen Erfolgsgeschichte weiterzuschreiben.
Von den Arabern, Iranern und Türken schlägt den Kurden Misstrauen entgegen. Ihre Loyalität zu Staat und Institutionen wird hinterfragt. Im Irak wurden die Kurden unter Saddam Hussein brutal verfolgt. In den 1980er-Jahren kam es zu einer regelrechten Vernichtungskampagne. Zehntausende Kurden starben.
Seit dem Sturz des Diktators hat sich das Blatt gewendet. Während der Irak im Chaos von Terror und Bürgerkrieg versank, vermochten die Kurden ihre Autonomie weiter zu konsolidieren. Nun streben sie sogar die vollständige Unabhängigkeit an: Am 25. September halten die Kurden des Nordiraks ein Referendum ab.
Ein grosser Traum und ein grauer Alltag
Und sie stimmen damit, so Scholkmann, «über den grossen kurdischen Traum ab». Die Erfahrung, von den Westmächten entlang von eigenmächtig gezogenen Grenzen verteilt zu werden, wirkt bis heute nach: «Wenn Sie die Menschen nach Unabhängigkeit fragen, spielen Sie direkt in die Herzen der Kurden.»
Das Referendum wird allerdings auch durch Machtkalkül befeuert. Denn Masud Barzani, seit 2005 Präsident der Autonomen Region Kurdistan, weiss um die emotionale Wirkung des «grossen Traumes»: «Er geht schon dermassen lange mit dem Referendum hausieren, dass für manche mittlerweile seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht», sagt Scholkmann.
Andere vermuten, dass das Manöver von innenpolitischen Problemen ablenken soll. «Es gibt Kritik an Barzanis Führungsstil, Gezänk unter den Parteien, die Wirtschaft steckt in der Krise», so der Nahost-Korrespondent. Diese Kritik sei allgegenwärtig, wenn man mit den Kurden im Nordirak spreche.
Auf den Trümmern des Kalifats
Doch abseits von den Schwierigkeiten des Alltags wachse die Sehnsucht danach, den «Zerrüttungen in der arabischen Nachbarschaft» zu entkommen. Jahrelang wehrte sich die Kurdenmiliz, die Peschmerga, gegen die Angriffe der Terrormiliz IS. Sie errichtete ihr «Kalifat» an den Grenzen der Kurdenregion.
Jetzt wittern die Kurden ihre historische Chance, so Scholkmann: «Man spricht in Barzanis Partei davon, auf den Trümmern des Terror-Kalifats an der eigenen Erfolgsgeschichte weiterzuschreiben. Jetzt, wo der arabische Rest des Landes geschwächt und mit sich selbst beschäftigt ist.»
In den Köpfen der Menschen ist die Loslösung vom «Mutterland» schon weit fortgeschritten: «Mit den Jungen in der Hauptstadt Erbil kann man sich kaum noch in Arabisch verständigen. Für viele ist es nur noch eine ungeliebte Fremdsprache», berichtet Scholkmann. Die reichen Öl- und Gasvorräte garantieren Kurdistan – zum Unmut der irakischen Regierung – dereinst auf eigenen Beinen stehen zu können.
Auch sonst ist der Abnabelungsprozess von Bagdad weit fortgeschritten. Reisende können ohne irakisches Visum in die autonome Region gelangen, es gibt eigene Polizeikräfte und auch wirtschaftlich sind die Bande zur Zentralmacht gekappt: «Paradoxerweise hängt die Autonomiezone stark von der Türkei ab, die ihre eigene kurdische Bevölkerung beargwöhnt und deren Führung als Terroristen verfolgt», sagt Scholkmann.
Die Schwäche der arabischen Nachbarn machten sich die Kurden bereits zunutze. Sie profitierten vom militärischen Rückzug des IS und konnten ihr Territorium ausweiten – etwa auf die Ölstadt Kirkuk. Die kurdische Führung will auch die dort lebenden Araber und Turkmenen an der Abstimmung über Kurdistan teilhaben lassen:
Längst nicht alle von ihnen sind einverstanden mit den Unabhängigkeitsbestrebungen. Manche warnen sogar davor, dass der Streit um Kirkuk in einen neuen irakischen Krieg münden könnte.
Und auch in der Nachbarschaft ist man wenig begeistert über das Referendum. Für die Türkei und den Iran bedeutet ein unabhängiges Kurdistan einen Präzedenzfall, den es laut Scholkmann zu verhindern gilt: «Ankara und Teheran verurteilen die Abstimmung. Kurdische Unabhängigkeit vor der eigenen Haustüre ist für beide eine rote Linie.»
Schiitische Politiker in Bagdad schlagen noch ganz andere Töne an: «Sie drohen mit Krieg um Kirkuk. Dabei spielt sicher auch vorgezogener Wahlkampf eine Rolle», relativiert Scholkmann. Klar ist aber: Der Traum von Kurdistan wird so einfach nicht Realität.