Desaster seien nicht Misserfolge, sondern Chancen, hat Boris Johnson einst geschrieben – und maliziös angefügt: Chancen für neue Desaster.
Getreu diesem Motto versuchte er heute im Parlament den überraschenden Rücktritt seiner engsten Minister als etwas Positives zu deuten. Mit der Neubesetzung dieser Posten könne er eine noch bessere Politik machen – und von einem Rücktritt seinerseits könne keine Rede sein. In Krisenzeiten laufe man nicht einfach davon, sondern kümmere sich um die wahren Probleme der Leute im Land.
Rücktritts-Forderungen auch aus den eigenen Reihen
Diese Rechtfertigung kam im Unterhaus nicht nur gut an. Labour-Chef Keir Starmer griff den Premierminister darauf frontal an und forderte einmal mehr seinen Rücktritt.
Die Attacken der Opposition waren nicht überraschend. Sie gehören zum ortsüblichen Ritual. Spannender war heute das Verhalten von Johnsons eigener Fraktion. Der Premierminister beruft sich immer wieder auf seine satte Parlaments-Mehrheit von 80 Stimmen.
Doch diese schrumpft. Nicht numerisch, aber atmosphärisch: Johnson wurde heute von seinen Leuten nicht wie üblich mit wohlwollenden Zwischenrufen begrüsst, sondern mit eher unangenehmen Fragen. Eine Reihe von konservativen Abgeordneten forderten Johnson gar zum Rücktritt auf.
Nurmehr eine Frage des Zeitpunkts
Während in Grossbritannien aufgrund der rekordhohen Inflation mittlerweile gegen 7 Millionen Menschen an der Armutsgrenze leben, exploriert das Parlament tatsächlich wöchentlich die jüngsten Charakterschwächen und Gedächtnislücken des Premierministers. Davon habe er genug, sagte der abtretende Gesundheitsminister Savid Javid in einer persönlichen Erklärung. «Ab einem bestimmten Punkt muss man sagen, genug ist genug. Ich bin überzeugt, wir haben diesen Punkt erreicht.» Er habe diesem Premierminister loyal gedient. Er habe ihm immer wieder verziehen und Vertrauen geschenkt, «aber irgendeinmal funktioniert der Reset-Knopf nicht mehr und man stellt fest, dass die Maschine kaputt ist.»
Es war heute im Unterhaus deutlich hörbar. Johnson befindet sich im rasanten Sinkflug. Innerhalb eines Monats hat er seinen Schatzkanzler verloren, seinen Gesundheitsminister, seinen Parteivorsitzenden und insbesondere die Unterstützung von mehr als 140 Parlamentariern in einer Vertrauens-Abstimmung.
Johnson verkündete zwar noch kürzlich selbstbewusst, er wolle bis 2030 im Amt bleiben. Letzte Nacht gab es indes reale Zweifel, ob er es überhaupt noch bis um Mitternacht schafft. Er hat das jüngste Desaster bis zur Stunde arg ramponiert noch überlebt. Die Frage ist jedoch längst nicht mehr, ob er gehen muss – sondern wann.