Boris Johnson besucht zuerst ein entstehendes Impfzentrum der Armee in Glasgow. Er wirkt gekonnt locker, ist ganz in seinem Element. Offiziell ist er hier, um Präsenz zu zeigen im Kampf gegen das Virus. Doch inoffiziell ist es eine Charm-Offensive, so erklärt Johnson heute gegenüber Journalisten: «Ich denke, es ist nicht richtig, endlos über ein weiteres Referendum zu reden. Während das Land doch will – also vor allem die Menschen in Schottland doch wollen – dass wir die Pandemie bekämpfen.»
Schotten waren gegen Brexit
Doch da könnte er sich irren, die Unterstützung für die Unabhängigkeit ist im letzten Jahr stetig gewachsen. Dafür gibt es zwei Hauptgründe: Brexit ist der eine, denn die Schotten haben den EU-Austritt 2016 mehrheitlich abgelehnt. Und seit Brexit im Januar in Kraft getreten ist, kämpfen viele Fischer ums Überleben, weil sie ihre Produkte kaum noch in die EU exportieren können. Sie fühlen sich einmal mehr von Westminster im Stich gelassen.
Sturgeon brilliert in der Covidkrise
Nicola Sturgeon ist ein weiterer Grund. Die Coronakrise hat der schottischen Regierungschefin eine Plattform gegeben, denn die Bekämpfung der Pandemie obliegt teilweise den Regionen. Seit dem Frühling ist sie fast täglich auf allen News-Sendern. Sie wirkte im Gegensatz zu Boris Johnson von Anfang an seriös, informiert und brillierte in dieser Krise fast immer.
Unnötige Reise
Im Vorfeld des heutigen Ausflugs hatte Nicola Sturgeon leichtes Spiel, denn die britische Bevölkerung ist dazu aufgerufen, unnötige Reisen zu unterlassen. Und als solche betitelte Sturgeon Johnson Ausflug: «Leute wie Boris Johnson und ich müssen zur Arbeit, aus Gründen, die die Menschen verstehen. Aber dazu muss man nicht quer durchs Land reisen. Ist das jetzt wirklich nötig?»
Kein cleverer Schachzug
Der Trip war ein Eigengoal sind Politbeobachter überzeugt, denn es bestärkt all jene, die von Johnson sagen, er steht lieber im Rampenlicht, als im stillen Kämmerchen seine Arbeit zu erledigen. Der Schotte Alexander Douglas kämpfte im letzten Unabhängigkeits-Referendum 2014 für ein Vereinigtes Königreich und ist auch dieser Meinung: «Es ist für den Premierminister legitim überall hinzureisen, aber in diesem Falle war es einfach dumm nach Schottland zu reisen.»
Kämpferische Töne nehmen zu
Der Blitztrip macht deutlich, wie sehr Boris Johnson beunruhigt ist über die zunehmende Unterstützung für die Unabhängigkeit. Im Mai finden in Schottland Parlamentswahlen statt und die Partei von Nicolas Sturgeon, die SNP, könnte weitere Sitze dazu gewinnen.
Für ein Unabhängigkeitsreferendum, dessen Resultat verbindlich ist, braucht Schottland eigentlich das Okay aus Westminster. Doch kürzlich tönte Sturgeon erstmals an, sie wäre allenfalls auch bereit, ohne das Okay der britischen Regierung abstimmen zu lassen. Darüber hinaus überlegt die SNP sogar via das oberste Gericht die Verbindlichkeit für die Abstimmung zu erkämpfen. Wie die Chancen dafür stehen, wagt zurzeit niemand zu prognostizieren.
Doch die Überlegungen und die kämpferischen Töne aus Schottland zeigen, jene, die für die Unabhängigkeit kämpfen sind viel entschlossener als noch vor zwei oder drei Jahren.