Es scheint, als ob der Bau von Grenzmauern und -Befestigungen eine weitere Renaissance erlebt. Die Mauerpläne des türkischen Präsidenten Erdogan an der türkisch-iranischen Grenze zum Schutz vor Flüchtlingen aus Afghanistan und der aus demselben Grund geplante 2.5 Meter hohe Grenzzaun zwischen Polen und Belarus sind nur die jüngsten Beispiele.
Rund ein Drittel aller Länder weltweit haben mittlerweile ihre Grenzen mit Mauern oder Mauern ähnlichen Zäunen befestigt – viele wurden erst nach der Jahrtausendwende errichtet. Auch die Erweiterung der Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko unter US-Präsident Trump rückten solche Grenzbefestigungen weltweit erneut in den Fokus.
Doch Grenzmauern sind kein neues Phänomen. Die Menschheit baut bereits seit vielen tausend Jahren immer wieder imposante Befestigungsmauern. Das Ziel war stets ein Ähnliches: den Schutz der auf der einen Seite der Mauer liegenden vor denjenigen auf der anderen Seite. Waren es in vergangenen Jahrhunderten meist Angreifer, vor denen man sich fürchtete, sollen die Bauwerke heute meist Migranten abhalten.
Mauern als alternative Strategie für Sicherheit
Die erste bekannte Stadtmauer stand wohl in Jericho, im heutigen palästinensischen Autonomiegebiet. Schon vor rund 10'000 Jahren hat dort eine Mauer das kleine Siedlungsgebiet umgeben. Mit der Zeit entstanden andere Städte um Jericho herum, welche die Schutzmauern kopierten. Stadtmauern wurden für eine gewisse Zeit zum eigentlichen Merkmal von Städten.
Diese Mauern entstanden aus einem Streben nach Sicherheit. Bevor es Stadtmauern gab, wurden junge Männer in den primitiven Gesellschaften immer zu Kämpfern ausgebildet – zu eigentlichen Verteidigern, welche die Gemeinschaft vor Eindringlingen und Feinden beschützen sollten.
Gemeinschaften in aller Welt entwickelten dabei erstaunliche Strategien, um die Männer furchtlos zu machen, wie der Historiker US-amerikanische Historiker David Frye in seinem Buch «Walls: A History of Civilization in Blood and Brick» darlegt. In Bienennester gestossen und mit Stöcken geschlagen zu werden, sind dabei noch die harmloseren Männlichkeitsriten, die überliefert sind.
Mauern – Katalysatoren der Zivilisation
Mit dem Aufkommen von Stadtmauern veränderte sich das grundlegend: Die Mauern brachten eine nie gekannte Sicherheit vor Eroberungsfeldzügen. «Stadtmauern befreiten einen grösseren Teil der Bevölkerung von der Aufgabe der Verteidigung und ermöglichten es den Menschen, andere Rollen zu übernehmen und die zivilisierte Kultur zu bereichern», erklärt David Frye, der an der Eastern Connecticut State University Geschichte lehrt, gegenüber SRF. Männlichkeitsriten wurden in dieser neuen Sicherheit mehr und mehr hinfällig, der Mann wurde mehr zum Arbeiter als zum Krieger.
Stadtmauern befreiten einen grösseren Teil der Bevölkerung von der Aufgabe der Verteidigung und ermöglichten es den Menschen, andere Rollen zu übernehmen (...).
Diese neue Art, den Besitz und das Leben zu sichern, ermöglichte so am Ende die Weiterentwicklung der Zivilisation. Denn: «Im Wesentlichen ist Zivilisation die Art von Kultur, die von Zivilisten geschaffen wird. In der Vergangenheit gab es viel mehr Gesellschaften, in denen es gar keine Zivilisten gab. Jeder Mann war ein Krieger, keiner engagierte sich als Künstler, Wissenschaftler, Ingenieur, Schriftsteller, Philosoph oder Baumeister», sagt David Frye.
Die Unterschiede der Gesellschaften von Sparta und Athen veranschaulichen dies gut: Während die Spartaner ihren einzigen Wert im Kampf sahen und bewusst auf Mauern verzichteten – und so weder Kunst noch Wissenschaft hervorbrachten –, errichteten die Athener Mauern und konnten so zum Beispiel Kunst, Mathematik und Philosophie weiterentwickeln.
Das Zeitalter der grossen Mauern – und der Niedergang
Mit der Zeit schlossen sich ummauerte Städte zu grösseren Gebilden zusammen – die dann wiederum längere Mauern um ihr Gebiet erstellten. Gemeinhin gilt die Mauer um den antiken Staat von Ur um 2000 v. Chr., der im heutigen Irak liegt, als erste Grenzmauer. Schliesslich war es der erste Kaiser von China, der seinen Staat für die Ewigkeit absichern wollte. Im dritten Jahrhundert vor Christus begann er mit dem Bau eines Vorläufers der Chinesische Mauer und gab damit den Startschuss zum Zeitalter der grossen Mauern. Der Bau sollte mehr als 1000 Jahre dauern und die Mauer am Schluss mehr als 21'000 Kilometer lang sein.
Später – im 2. Jahrhundert nach Christus – hat der römische Kaiser Hadrian die Grenzen des römischen Reiches mit Mauern gesichert. Auch die Perser bauten in späteren Jahrhunderten sehr erfolgreich Mauern. Hinter den grossen Mauern konnte sich der beschriebene Wandel fortsetzen. Die Mauern brachten für die Ersteller meist Frieden und Sicherheit – und damit nicht nur den Römern die Möglichkeit, sich auf anderes als Krieg und Verteidigung zu fokussieren.
Die Erfindung des Schiesspulvers im 12. Jahrhundert und der Einzug der ersten Feuerwaffen in Europa war dann der Anfang vom Ende des Zeitalters der Mauern, das spätestens mit dem Fall der Mauer von Konstantinopel mithilfe von Kanonenkugeln im Jahr 1453 eingeläutet wurde.
Mauern grenzen auch aus
Mauern können also für die Ersteller Sicherheit bringen. Aber natürlich grenzen Mauern auch aus. In den letzten Jahren wurden und werden sie vor allem aus einem Grund gebaut: um den Zustrom von Menschen zu stoppen und den Besitzstand zu wahren. Meist versuchen wohlhabendere Staaten auf der einen Seite die Grenzen zu einem ärmeren Land dichtzumachen.
Eine Mauer, die viel Leid brachte, war die Berliner Mauer. Sie ist ein Spezialfall unter den Grenzmauern. Denn im Unterschied zu den meisten anderen sollte sie nicht vor Eindringlingen schützen, sondern die Menschen an der Flucht hindern. An der rund 155 Kilometer langen Mauer, welche West-Berlin von 1961 bis 1989 von der DDR abriegelte, starben bis zu 245 Menschen durch Schüsse der DDR-Grenzsoldaten oder durch Unfälle.
Und die heutigen Mauern?
Doch weshalb werden nun heute wieder vermehrt Mauern gebaut? Für David Frye ist klar: «Moderne Mauern werden eher an den Grenzen von Staaten errichtet und sollen illegale Einwanderung, Drogenschmuggel und Terrorismus verhindern.» Dies im Unterschied zu den historischen Mauern. «In der Vergangenheit wurden Mauern meist als Verteidigungsanlagen gebaut, um eindringende Armeen abzuwehren.»
Moderne Mauern werden eher an den Grenzen von Staaten errichtet und sollen illegale Einwanderung, Drogenschmuggel und Terrorismus verhindern
Doch gelingt es diesen modernen Mauern überhaupt, diese Ziele zu erreichen? Die Ökonomen Victoria Vernon und Klaus Zimmermann kommen in ihrer Arbeit zu diesem Thema zum Schluss, dass «es wenig Beweise gibt, dass Grenzmauern ein effektives Mittel sind, Terrorismus, Migration und Schmuggel zu unterbinden.» Mehr als je zuvor, seien Mauern heute politisch motiviert und dienten vor allem Politikern, um eine harte Linie gegenüber Einwanderung zu zeigen. Ihre Macht liegt heutzutage also auch in ihrer Aussenwirkung.
Wirtschaftliche Massnahmen wären derweil laut Vernon und Zimmermann viel effektiver. Ihr Schluss ist eindeutig: «Die Wirtschaftsliteratur legt überwiegend nahe, dass eine Politik der offenen Grenzen, mit weniger restriktiven Einwanderungs- und Handelsbestimmungen den Bürgern im eigenen Land mehr nützt als Mauern.»
Es gibt wenig Beweise, dass Grenzmauern ein effektives Mittel sind, Terrorismus, Migration und Schmuggel zu unterbinden.
Die Angst vor neuen, grossen Flüchtlingsströmen scheint aber immer wieder den auch mit immensen Kosten verbundenen Mauerbau zu rechtfertigen. Die jüngsten Mauerpläne zwischen der Türkei und dem Irak, aber auch der diese Woche angekündigte Grenzzaun zwischen Polen und Belarus zeigen das eindrücklich.
Doch welche Effekte haben solche Mauerwerke auf die Menschen und das Leben in den betroffenen Regionen? Die Befestigungen werden ja meist in Gebieten erstellt, in denen der Grenzverlauf nicht umstritten ist und die Grenze oft aus geografischen Gründen bereits schwer passierbar ist.
Einen eher überraschenden Effekt haben die Forscher Vetonatus Kamwela und Peter Bergeijk festgestellt. Sie haben die Auswirkung von Grenzmauern und -befestigungen auf den lokalen Handel untersucht. In ihrem Paper kommen sie zum Schluss, dass der bilaterale Handel durch Mauern und Zäune auch wegen der physischen Verzerrung der Handelsströme im Vergleich zu einer unbefestigten Grenze erheblich zurückgeht: «Länder, die durch eine Mauer getrennt sind, treiben im Durchschnitt 46 bis 73 Prozent weniger Handel, als dies unter den gleichen Umständen der Fall wäre, wenn es die Grenzmauer nicht gäbe.» Diese Kosten würden beim Bau einer Grenzmauer meist nicht kalkuliert.
Mauern sollen also heute wie damals Sicherheit bringen. Und können heute wie damals auch Effekte haben, die nicht der Intention beim Erstellen der Mauer entsprachen.