Die Erhöhung des Rentenalters ist nicht nur in der Schweiz eine heikle Angelegenheit. Im Gegensatz zu uns machen die Russen ihrem Unmut jedoch nicht an der Urne Luft, sondern auf der Strasse: «Das Volk ist dagegen», skandierten am Mittwoch rund 1000 Demonstranten in Moskau.
Die Zahl mag in der Zwölf-Millionen-Metropole nicht wirklich zu beeindrucken. Doch auch wenn Massenproteste bislang ausblieben, sagt SRF-Korrespondent David Nauer: «Die Rentenreform ist äusserst unpopulär, bis in breite Bevölkerungsschichten und nicht nur bei Kreml-kritischen Leuten.»
Aus der Distanz betrachtet mag die Empörung erstaunen. Denn wirklich zeitgemäss scheint die geltende Regelung nicht: Russland hat eines der tiefsten Rentenalter der Welt. Nun plant der Kreml, dieses schrittweise anzuheben: Von 55 auf 63 bei Frauen, und von 60 auf 65 bei Männern.
Der Haken dabei: In Russland liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern bei 67,5 Jahren und bei Frauen bei 69,9 (Schweiz: 81,5 Jahre bei Männern, 85,3 bei Frauen).
Das einzige Risiko für den Kreml dürfte der Volkszorn sein.
Das russische Parlament stimmte der Erhöhung des Rentenalters am Donnerstag in erster Lesung zu. Am Widerstand der Opposition dürfte die Vorlage nicht scheitern, prognostiziert Nauer. Denn die Kreml-Partei Einiges Russland verfüge über eine überwältigende Mehrheit an Sitzen in der Duma.
Faktische Abschaffung der Rente?
«Das einzige Risiko für den Kreml dürfte der Volkszorn sein», sagt Nauer. Im Land grassiere eine Stimmung, die durch die Pläne des Kremls zusätzlich befeuert wird: «Die Reichen leben in Saus und Braus und das Volk bezahlt die Zeche», fasst der SRF-Korrespondent die allgemeine Befindlichkeit zusammen.
Viele Leute hätten das Gefühl, dass ihnen nun das einzige «soziale Instrument» weggenommen werde, das der Staat anbietet. Und die Menschen klagten, dass sie ihre eigene Rente gar nicht mehr erleben würden, sollte die Reform tatsächlich durchkommen. Zudem hätten ältere Menschen auch in Russland Probleme auf dem Arbeitsmarkt.
Überalterte Gesellschaft wird zum Problem
Der Reformbedarf im Rentensystem ist allerdings unstrittig. Wie in vielen westlichen Staaten ist die demographische Entwicklung auch in Russland ungünstig. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen allmählich in Rente; die Jahrgänge aus den 1990er-Jahren, die nun ins Erwerbsleben treten sollten, sind ungleich kleiner.
In den kommenden Jahren wird die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter jährlich um 400'000 abnehmen. «Das ist nicht nur ein Problem für die Finanzierung der Rentenkasse, sondern die ganze Volkswirtschaft», schliesst Nauer.
Immerhin: Die Renten sollen um 1000 Rubel (rund 15 Franken) angehoben werden. Angesichts des oftmals niedrigen Rentenniveaus von rund 150 Franken ein namhafter Betrag. Trotzdem dürften viele Rentner weiter auf die Unterstützung ihrer Kinder oder den eigenen Gemüsegarten angewiesen bleiben, sagt Nauer.
Regierung im Umfragetief
Einen Popularitätswettbewerb gewinnt man mit der Erhöhung des Rentenalters nirgends. Auch nicht in Russland. Muss Präsident Wladimir Putin fürchten, dass auf die WM-Euphorie der grosse Kater folgt? Tatsächlich seien die Popularitätswerte des Kreml-Chefs laut Umfrageinstituten zuletzt gesunken, so Nauer.
Aber: «Die Regierung um Premier Medwedew ist noch viel unbeliebter geworden, als sie es ohnehin schon war.» Das entspreche einem typisch russischen Phänomen, das Nauer wie folgt zusammenfasst: Nicht der Zar ist Schuld, sondern seine Adlaten.
Dass der Kreml bei der Rentenreform zurückkrebst, glaubt der SRF-Korrespondent nicht. Denn eine organisierte Opposition, die den Unmut kanalisieren könne, gebe es in Russland nicht: «Das politische Feld ist gesäubert.» Wie in Sowjetzeiten würden die Menschen in der Küche sitzen und auf die Regierung schimpfen – das Parlament mache aber, was es wolle.