Es riecht nach verbrannten Würsten und Ärger. Im Wind flattern britische Flaggen. Am Strassenrand stehen übergewichtige Kinder und magere Hunde. Shankill im Osten von Belfast ist kein schmuckes Quartier. Eine Hochburg pro-britischer Unionisten.
Über 200 vorwiegend Männer formieren sich mit Trommeln und Pfeifen zu einem Protestmarsch. Joe ist einer der Anführer. Seinen Nachnamen will er nicht nennen, dafür, was die Leute auf die Strasse treibe.
Joe erklärt: «Im Karfreitagsabkommen ist festgehalten, dass Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs ist, wie England, Schottland oder Wales. Seit dem Brexit gelten für die Nordiren jedoch andere Gesetze. Unser Handel wird von der EU bestimmt, obwohl wir nicht mehr in der EU sind. Die neue Grenze in der Irischen See trennt uns von unserem Mutterland. Damit wurde für uns eine rote Linie überschritten.»
Er sei ein loyaler Brite. In seinem Schlafzimmer hänge eine britische Flagge. Seine Familie feiere den Geburtstag der Königin. Doch mit dem Brexit sei ihm diese Identität gestohlen worden.
«Hier gibt es eine wachsende Menge wütender, frustrierter, junger Menschen, die realisieren, dass sie betrogen wurden. Das macht sie wütend. Bis jetzt protestieren sie friedlich, aber wer weiss schon, wann die Wut umschlägt», erzählt Joe weiter.
Wie rasch die Wut in Gewalt umschlagen kann, zeigte sich vor einem Jahr. Junge Unionisten steckten einen Bus in Brand und lieferten sich mit der Polizei während mehreren Nächten Strassenschlachten.
Bomben werden 24 Jahre nach dem Friedensabkommen vom Karfreitag in Belfast keine mehr gezündet, aber die Spannungen sind geblieben. In der Hauptstadt trennen noch immer etwa hundert Mauern und Zäune die Wohnviertel der beiden Bevölkerungsgruppen. Die Schulsysteme sind bis heute mehr oder weniger konfessionell getrennt.
Die Kirche ist Teil des Problems
Wer die alten Wunden besser verstehen will, die der Brexit in Nordirland wieder aufgerissen hat, besucht am besten Martin Magill. Wunden heilen ist sein Beruf. Der Priester kennt den Nordirlandkonflikt seit seiner Kindheit.
Dass in Nordirland wieder Busse brennen, erschüttere ihn, sagt er in seinem Pfarrhaus an der Falls Road in Belfast.
«Nordirland ist ein wunderbares Land, aber ebenso ein verwundetes Land. Wir sind eine verletzte Gesellschaft. Traumatisiert nach Jahrzehnten der Gewalt. Wenn sie durch Belfast gehen, sehen sie die Spuren unserer gewalttätigen Vergangenheit an jeder Ecke. Die Mauer, die Flaggen, die Parolen an den Wänden. Es ist Zeit, endlich die Heilung anzugehen», so Magill.
Nordirland benötige eine Psychotherapie, um die Vergangenheit endlich hinter sich zulassen, meint der Priester. «Denn in diesem Land wächst eine neue Generation auf. Junge Menschen. Die brauchen keine Waffen, sondern Arbeit, ein besseres Bildungssystem. Sie brauchen eine Perspektive.»
Doch welche Rolle spielt die Kirche in diesem Konflikt? Ist sie Teil der Heilung – oder immer noch eher Vorwand, um die eigene Gemeinschaft zu mobilisieren?
«Die Kirchen pflegen tatsächlich bis heute ihre Feindbilder. Wir müssten über die Konfessionsgrenzen, über unser gesellschaftliches Trauma sprechen. Aber wir sind dazu nicht fähig und es wird Zeit, dass sich die Kirchen eingestehen, dass wir Teil des Problems sind.»
Magill weiss, wovon er spricht. In seinem Bezirk gebe es eine katholische und eine reformierte Kirche. Beide Gotteshäuser liegen 500 Meter voneinander entfernt. Errichtet wurden sie bereits im 19. Jahrhundert. Aber seit 140 Jahren würden die beiden Gemeinden kein Wort miteinander wechseln. Und bis heute sei es ihm nicht gelungen, diese Menschen zusammenzubringen.
Die nordirische Wirtschaft profitiert vom Brexit
Wer in Nordirland gute Nachrichten sucht, sucht lange. Fündig wird man bei der Wirtschaft. Wer Waren aus England einführt, muss zwar wegen der neuen Zollgrenze zwischen Nordirland und dem britischen Mutterland mehr Formulare ausfüllen.
Doch der Handel, über die offene Grenze im Süden zur Republik Irland ist dagegen reger als je zuvor. 2021 ist das Handelsvolumen, gemäss der nordirischen Wirtschaftskammer, um gut 60 Prozent gestiegen. Einer, der von diesem Wachstum profitiert, ist Gavon Kileen. Der 52-jährige Unternehmer ist Inhaber der Firma Nuprint. Diese druckt Etiketten für den Lebensmittelsektor.
«Wir beliefern Firmen auf der ganzen irischen Insel, aber auch einige Firmen in Grossbritannien. Zu unseren Kunden gehört der bekannte Bushmills Whisky, aber auch Monster-Energy-Drinks und Produzenten von Fertigmahlzeiten», sagt der Unternehmer.
Wie die Mehrheit der Nordiren hat Gavin gegen den Brexit gestimmt. Doch das Nordirland-Protokoll erweise sich als Gewinn. Das Geschäft mit dem britischen Festland habe nicht gelitten und der Export seiner Druckerei in die Republik Irland sei seit dem Brexit um 30 Prozent gestiegen.
«Dank des Nordirland-Protokolls hat Nordirland eine einzigartige Stellung erhalten. Wir profitieren vom Besten von beiden Welten. Wir sind Teil des europäischen Binnenmarktes geblieben und gehören gleichzeitig zum Vereinigten Königreich. Wir haben fast ohne Hindernisse Zugang zu beiden Märkten», meint Kileen.
Zu lange habe der Brexit das Land gelähmt: «Lasst uns dieses unsägliche Kapitel endlich schliessen und uns den wirklichen Problemen zu wenden. Der Bewältigung der Folgeschäden der Pandemie und die Beendung des Krieges in der Ukraine.»
Vertrauen in die britische Regierung ist verschwunden
Ob sich dieses Kapitel so einfach schliessen lässt, kann Katy Hayward beurteilen. Niemand kennt die politische Tektonik Nordirlands und ihre Verwerfungen besser als sie. Hayward ist Professorin für politische Soziologie an der Queens University in Belfast.
Es riecht nach frischem Kaffee. Vor wenigen Tagen hat die nordirische Regierung die letzten Pandemie-Restriktionen aufgehoben. Die Mensa ist wieder voll mit Studierenden. Die 40-jährige Soziologin lächelt freundlich. Ihre Schadenbilanz ist aber ernüchternd: Der Brexit habe die politische Stabilität in Nordirland massiv erschüttert.
«Das Friedensabkommen vom Karfreitag hat nur Bestand, wenn die ausgehandelte Balance zwischen den verschiedenen Akteuren im Gleichgewicht bleibt. Das heisst, die Beziehung zwischen dem Süden und dem Norden der Insel, aber ebenso zwischen den Unionisten und den Republikanern. Heute müssen wir feststellen, dass der Brexit diese Beziehungen fundamental strapaziert.»
Interessanterweise habe die Zustimmung in Nordirland für das Protokoll in den vergangenen Monaten leicht zugenommen. Vielleicht weil die Leute über die Irische See blickten und die Auswirkungen des Brexits in Grossbritannien sehen würden: Lieferschwierigkeiten und administrative Hürden für die Exportindustrie. Nordirland leide nicht unter diesen Problemen.
«Was wir in unseren Umfragen jedoch feststellen, ist ein enormes Misstrauen gegenüber der britischen Regierung in London. Nur gerade vier Prozent der befragten Nordiren, egal ob Unionisten oder Republikaner, glauben, dass die britische Regierung die Interessen der Nordiren wirklich wahrnimmt.»
Seit einigen Monaten ist die britische Aussenministerin Liz Truss für die Umsetzung des Nordirland-Protokolls zuständig ist. Das sei pikant, sagt die Soziologin. Nordirland sei schliesslich Teil des Königreichs. «Der Hochseilakt, was der britischen Regierung wichtiger ist, der Brexit oder Nordirland, wird von London viel Fingerspitzengefühl erfordern», so Hayward.
Besonderes Fingerspitzengefühl hat der Premierminister bisher nicht gezeigt. Seit seiner Wahl Ende 2019 liess sich Boris Johnson genau einmal in Nordirland blicken. Für drei Stunden. Dieses Desinteresse ist ein Affront, nicht nur für die pro-britischen Unionisten.
Gemäss repräsentativen Umfragen erfüllt zurzeit allein die Wirtschaft die Erwartungen der Öffentlichkeit – nicht nur in puncto Wachstum, sondern auch bezüglich der Vertrauenswürdigkeit: «Das liegt möglicherweise daran, dass diese nicht ideologisch, sondern mit Fakten und Erfahrungen argumentiert», meint Hayward.
Eine Chance für die Wiedervereinigung?
Der wirtschaftliche Aufschwung löst aber durchaus gemischte Gefühle aus. Dass Nordirland vom Brexit profitiert, lässt die einen hoffen und die anderen fürchten: Für die Unionisten wurde die Zollgrenze in der Irischen See mit Absicht geschaffen, um den Handel in die Irische Republik umzuleiten und Nordirland noch mehr vom Mutterland abzukoppeln.
Bei vielen Republikanern dagegen nährt das wirtschaftliche Zusammenrücken Nordirlands mit dem Süden der Insel die Hoffnung auf ein vereinigtes Irland. Die Hoffnung ist nicht ganz unbegründet. Umfragen ergeben mittlerweile eine knappe Mehrheit für die Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland. Die Schlacht um den Brexit ist vorüber, aber jene um die Wiedervereinigung könnte erst noch beginnen.