Die Angst, willkürlich verhaftet zu werden, ist für die Menschen in Belarus allgegenwärtig. Seit August sind insgesamt 31‘000 Menschen im Land zeitweise festgenommen worden und die Zahl steigt laufend.
Die ersten drei Monate nach Igors Festnahme habe ich nur geweint.
Mit jeder Festnahme beraubt das Regime nicht nur eine Einzelperson der persönlichen Freiheit – auch das Leben der Angehörigen wird vom Tag der Festnahme an durch den Gefängnisalltag diktiert. Die belarussische Menschenrechtsorganisation Wjasna zählt zurzeit bereits über 220 politische Gefangene, darunter auch den 28-jährige Igor Losik.
«Die ersten drei Monate nach Igors Festnahme habe ich nur geweint – vor Ärger und aus Frustration. In der Zwischenzeit bin ich ein wenig zu mir gekommen. Mir blieb keine Wahl, als mich mit der Situation irgendwie zu arrangieren», schildert Daria Losik ihren Umgang mit der Festnahme ihres Mannes vor sieben Monaten.
Die belarussischen Behörden beschuldigen ihren Mann, Massenunruhen organisiert und daran teilgenommen zu haben. Er wurde vor den Präsidentschaftswahlen festgenommen – vor den Augen seiner damals anderthalb Jahre alten Tochter.
«Dass unsere Tochter noch so klein ist, hat den Vorteil, dass sie nicht versteht, was das Wort Gefängnis bedeutet», erzählt Daria. Ihr Alltag hat sich durch die Haft von Igor stark verändert. Sie ist täglich mit Besorgungen oder Abklärungen beschäftigt und schickt ihrem Mann Lebensmittel ins Gefängnis. Von den Rationen im Gefängnis könne kein Häftling satt werden und ihr Mann habe zudem erst kürzlich einen 40-tägigen Hungerstreik beendet. Er müsse sich nun langsam wieder an feste Nahrung gewöhnen.
Monate der Angst
«Ich selbst war früher zwar schon gegen das Regime, doch ich habe meine Meinung nicht öffentlich geäussert. Seit sie meinen Mann ins Gefängnis steckten, sage ich meine Meinung laut und deutlich. Wenn die Repression schon so nahe zu dir kommt, musst du dich wehren!» Die Inhaftierung ihres Mannes wurde für Daria irgendwann eine solch grosse Belastung, dass sie sich psychologische Hilfe holte.
Dieses Gefühl von der Situation überrollt zu werden, kennt Robert Stäheli nur zu gut. Seine Partnerin Natalia Hersche ist belarussisch-schweizerische Doppelbürgerin und war im September bei Verwandten zu Besuch, als sie sich den friedlichen Protesten anschloss. Sie wurde am 19. September festgenommen und Anfang Dezember zu 2.5 Jahren Gefängnis verurteilt.
«Am Anfang hat mich das richtig umgehauen, da war ich zuerst apathisch, wie gelähmt.» Es folgte die Angst um die körperliche Unversehrtheit seiner Partnerin, da viele Gefängnisinsassen nach ihrer Freilassung von Folter durch die Sondereinheiten und auch von Vergewaltigung berichteten.
Am Anfang hat mich das richtig umgehauen, da war ich zuerst apathisch, wie gelähmt.
Einen Monat nach der Festnahme konnte Robert Stäheli endlich aufatmen: Seine Partnerin scheint zumindest körperlich zu keinem Zeitpunkt schwer traumatisiert zu werden.
Doch die Situation ist weiter belastend: «Ich verfolgte zu Beginn die Politik im Land und überlegte ständig, was jetzt nun dieses oder jenes bedeuten könnte. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich damit aufhören muss. Wir wissen schlicht nicht, wie dieses Regime reagieren wird.»
Ein Land in Gefangenschaft
Die einzige Möglichkeit mit ihren Angehörigen im Gefängnis in Kontakt zu bleiben sind für die Partner und Familie Briefe. Doch nur ein kleiner Bruchteil der Briefe kommen tatsächlich auch an. Die Behörden lesen die Briefe gegen – und wenn der Inhalt als politisch beurteilt wird, lässt man den Brief an den Absender retournieren.
Der Vater von Maria Kalesnikowa hat seit einem Monat keinen Brief mehr von seiner Tochter erhalten. Um ihr näher zu sein, führt Alexander Kalesnikow jeden Tag in Gedanken Gespräch mit ihr, während er in der Umgebung des Gefängnisses spazieren geht. «Ich stelle mir vor meinem inneren Auge ihr Lächeln vor. Sie ist ein sehr starker, integrer und guter Mensch.»
Im vergangenen Sommer wurde Maria Kalesnikowa zu einer der zentralen Personen der Demokratiebewegung im Land. «Ich bin sowjetisch erzogen worden, mein inneres Freiheitsgefühl ist noch nicht ganz zum Leben erwacht. Doch meine beiden Töchter sind freie Menschen – und für mich Vorbilder.» Die innere Freiheit könne einem niemand nehmen, ist Alexander Kalesnikow überzeugt. Die Bevölkerung lebt unter Alexander Lukaschenko bis auf Weiteres mit einem Bein im Gefängnis.