Das kleine Flugzeug fliegt über ein unermessliches Land: Wälder und Feuchtgebiete, soweit das Auge reicht. Weit weg münden mächtige Flüsse in die James Bay, eine grosse Meeresbucht. All das ist Teil des Wahlkreises von Charlie Angus.
Das Land gehörte einst dem Volk der Cree. Doch das war einmal. «Das hier ist das andere Kanada», sagt Angus. «Die Reservate hier wurden geschaffen, um die Menschen vom Land zu vertreiben. Sie sind eigentliche Lager für Vertriebene». Bald wird klar, was er meint: Das Flugzeug landet in der Kashechewan First Nation. Um die 2000 Menschen leben hier. Die nächste grössere Stadt ist Luftlinie 400 Kilometer entfernt, Kashechewan ist nur per Flugzeug zu erreichen.
Dicht an dicht stehen hier die einfachen Häuser in langen Reihen, manche nicht mehr als Baracken. «Bis zu 20 Menschen leben in diesen Häusern», erklärt Angus. Das Coronavirus habe sich hier rasend schnell verbreitet. Bevor endlich die Armee zu Hilfe kam, habe Kashechewan eine der höchsten Ansteckungsraten in ganz Kanada erlebt.
Im Frühling überschwemmt manchmal der mächtige Albany River das Reservat, so dass die Bewohner evakuiert werden müssen. Es gebe Pläne, das Reservat zu verschieben. Doch wie immer, wenn es um die First Nations gehe, lasse sich die Regierung in Ottawa viel Zeit. «Um hier in der Nähe eine Diamantmine zu bauen, wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt. Doch wir kämpfen immer noch darum, diese Gemeinde an einen sicheren Ort zu bringen», sagt Angus.
Die Parlamentarier in Ottawa müssen unsere Situation hier verstehen.
Seit 17 Jahren vertritt Charlie Angus die Menschen hier im Parlament in Ottawa. Und bald wird klar: Jede und jeder hier kennt den 58-Jährigen. Auf der Naturstrasse, übersät von Schlaglöchern, kommt Angus nicht weit. Fast im Minutentakt halten grosse, abgenutzte Pickup Trucks neben ihm. Die Menschen rufen ihm aus ihren Autos zu.
Vielfältige Probleme in den Reservaten
In einer Mischung aus Englisch und Cree erinnert er sie daran, zu wählen – und legt ihnen eine seiner Wahlkampf-Tafeln auf die Ladefläche. Auch im Büro von Guis Wesley ist er willkommen. «Die Parlamentarier in Ottawa müssen unsere Situation hier verstehen», erklärt der Chief von Kashechewan. Und hierherzukommen, und mit eigenen Augen zu sehen und den Menschen zuzuhören, sei sehr wichtig.
Die Probleme in den Reservaten sind vielfältig: verschmutztes Trinkwasser, die marode Bausubstanz, hohe Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Drogenmissbrauch. Vieles davon geht zurück auf die berüchtigten «Residential Schools». In den Internaten sollten indigene Kinder von der Kirche umerzogen, sollte ihnen ihre Kultur ausgetrieben werden. In den Schulen wurden sie über Jahrzehnte schwer missbraucht.
Trudeau hat die Versöhnung mit den Indigenen zur Priorität erklärt. Weil er aber so viele Versprechen gebrochen hat, versucht seine liberale Partei das Thema zu vermeiden.
Hier, an der James Bay, lag das wohl berüchtigtste dieser Internate. Ganze Generationen wurden traumatisiert. Und sie geben ihr Trauma an die junge Generation weiter. Die Rede ist von «transgenerationalem Trauma». Suizide von Jugendlichen etwa sind hier häufig. «Dort, wo die Residential Schools am meisten Schaden anrichteten, gibt es die meisten Suizide», stellt Angus fest. Sein Wahlkampf führt in auch zur Attawapiskat First Nation, wo sich vor kurzem ein 13-jähriges Mädchen das Leben nahm. Die Stimmung ist gedrückt. Jede und jeder hier weiss, dass solch ein Fall in einem Reservat eine Art Welle von Suizidversuchen auslösen kann, so wie es Attawapiskat 2016 erlebte.
Charlie Angus gehört der linken «New Democratic Party» an. Er ist ein scharfer Kritiker von Justin Trudeau. Der Premierminister hat in sechs Jahren einiges erreicht, um das Los der Indigenen zu verbessern. Aber viel zu wenig, findet Angus: «Trudeau hat die Versöhnung mit den Indigenen zur Priorität erklärt, hat sauberes Trinkwasser, gleiche Bildungschancen versprochen. Weil er aber so viele Versprechen gebrochen hat, versucht seine liberale Partei das Thema im Wahlkampf zu vermeiden».
Charlie Angus ist der einzige Politiker, der sich die Mühe macht, hier Wahlkampf zu betreiben. Die Feuerwehrstation in Kashechewan oder die neue Schule: Angus hat dafür in Ottawa gekämpft. So gut wie alle hier würden ihn wählen, sagt er. Man glaubt es ihm.