Auslöser der Massenproteste vor drei Wochen war die Wut über Ex-Präsident Sersch Sargsjan, der nicht von der Macht lassen wollte. Weil er nach zwei Amtszeiten nicht mehr Präsident bleiben durfte, griff er nach dem Posten des Regierungschefs.
Gemäss Kaukasus-Experte Uwe Halbach brachte dies das Fass zum Überlaufen: «Die Tricksereien, mit denen Präsident Sargsjan zum Regierungschef gemacht wurde, haben erhebliche politische Frustration und Empörung in der Gesellschaft geschaffen. Hinzu kommt die Frustration über die schwierigen Lebensverhältnisse und die sozialökonomischen Probleme im Land. Seit fünf Jahren kommt es deswegen immer wieder zu Protesten.»
Der überraschende Rücktritt: Nur wenige Tage nach dem Amtsantritt von Sersch Sargsjan als Regierungschef zog dieser sich bereits wieder zurück. Es ist das erste Mal seit der Unabhängigkeit Armeniens von der Sowjetunion, dass ein Anführer unter dem Druck der Strasse sein Amt aufgibt. Schon bei Sargsjans erster Wahl zum Präsidenten 2008 hatte es Proteste gegeben. Damals schlugen Sicherheitskräfte den Aufstand nieder, zehn Menschen wurden getötet. Diesmal wollte Sargsjan ein Blutvergiessen verhindern.
Die Oppositionspartei: Jelk (Ausweg) ist ein Bündnis aus regierungskritischen Bewegungen. Die Fraktion erzielte bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr 7,8 Prozent der Stimmen und hat zurzeit 9 Sitze in der 105-köpfigen Nationalversammlung.
Der Oppositionsführer: Nikol Paschinjan kämpft seit Jahren gegen die etablierten Eliten und Korruption sowie für demokratische Reformen. Der 42-Jährige – verheiratet, 4 Kinder – machte sich früh einen Namen als Regierungskritiker. Er studierte Journalistik in Eriwan und flog kurz vor dem Abschluss von der Universität. Das sei eine politische Entscheidung auch wegen seiner kritischen Artikel gewesen, meint Paschinjan. Dennoch arbeitete er jahrelang als Journalist und gründete 1999 die oppositionelle Zeitung «Armenische Zeit».
Machtkampf um den Posten des Premiers: Am 8. Mail findet im armenischen Parlament der nächste Versuch statt, einen Ministerpräsidenten zu wählen. Am 1. Mai war Oppositionsführer Nikol Paschinjan gescheitert, sich an die Spitze der Regierung wählen zu lassen. Im Parlament stellt die Republikanische Partei des zurückgetretenen Regierungschefs Sersch Sargsjan die Mehrheit. Die Partei könnte auch den zweiten Anlauf zur Ministerpräsidentenwahl ins Leere laufen lassen. Dann kommt es laut Verfassung zu einer Neuwahl, bis zu der die Republikaner aber noch den Staatsapparat beherrschen. Damit können sie entscheidend Einfluss auf die Wahlvorbereitung nehmen.
Das Verhältnis zu Russland: Militärisch ist Armenien auf seine Schutzmacht Russland angewiesen. Moskau hat rund 5000 Soldaten im Land stationiert. Für Russland ist die ehemalige Sowjetrepublik die wichtigste strategische Partnerin im Südkaukasus. So verfolgt Moskau misstrauisch die Entwicklung, zeigt sich aber bisher zurückhaltend.
Gemäss Christof Franzen, SRF-Korrespondent in Moskau, lässt sich die Einstellung des Kremls damit erklären, dass Oppositionsführer Paschinjan immer wieder betont habe, es gehe nicht um Geopolitik. Paschinjan wolle die strukturellen engen Verbindungen zwischen Armenien und Russland – sei es in der Verteidigung, sei es in der Wirtschaft – nicht grundsätzlich ändern, so Franzen.
Armenien gilt für die EU als Schlüsselland in einer wirtschaftlich, sozial und politisch nicht sehr stabilen Region. Das Land ist Mitglied der Östlichen Partnerschaft der EU. Der Deal: Es fliessen Gelder in die Region für wirtschaftliche Projekte, zum Beispiel für Verkehr und Forschung. Im Gegenzug hat Brüssel konkrete wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen: Transportwege zwischen Europa und Asien sichern und Armenien in die Terrorbekämpfung einbinden. Sozialpolitisch steht bei der EU die Förderung von Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte auf der Agenda.
Die Zusammenarbeit mit Armenien hat auch das Ziel, ein Bollwerk zu sein gegen Putins Ambitionen, noch mehr Einfluss in der Region zu bekommen. Dieser Grund wird allerdings von Seite der EU heruntergespielt. So betonte EU-Ratspräsident Donald Tusk: «Die Östliche Partnerschaft ist nicht gegen Russland gerichtet. Das ist kein geopolitischer Schönheitswettbewerb zwischen Russland und der EU.»
Der blutige Konflikt um Berg-Karabach: Der Streit zwischen Armenien und Aserbaidschan um das Gebiet Berg-Karabach bereitet international Sorge. Die Region gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan. Proarmenische Kräfte haben sich aber in den 1990er-Jahren losgesagt und halten angrenzende aserbaidschanische Gebiete besetzt. Auch mehr als 20 Jahre nach einem Waffenstillstand wird nahezu täglich geschossen. Das armenische Militär unterstützt die Führung der Region, die überwiegend von Armeniern bewohnt wird. Die Front ist schwer befestigt.
Experten warnen, die Kämpfe könnten jederzeit wieder eskalieren. Zuletzt waren 2016 rund 120 Menschen getötet worden. Im Konflikt um Berg-Karabach fährt Nikol Paschinjan einen ebenso harten Kurs wie die bisherige Regierung: «Unsere Aufgabe ist es, die Armee zu stärken und die Kampfbereitschaft zu erhöhen», erklärte er.