Gora Miha, 12, Rohingya
Die Schusswunde an Gora Mihas Handgelenk ist verkrustet – vernarbt ist sie noch längst nicht. Der Knabe liegt auf einem schmutzigen Leintuch, auf einer Matratze im Gang des grössten Provinz-Spitals in Cox's Bazar. Er ist alleine. Seine Eltern sind irgendwo in einem der Flüchtlingslager ausserhalb der Stadt. Gestern, so sagen die anderen Patienten, habe er geweint und geschrien, bis ihm die Stimme versagte.
Die Angst lasse ihn nicht los, sagt Gora Miha. Er sehe die Flammen, die ihn in jener verhängnisvollen Nacht Ende August aufgeweckt und sein Dorf verschlungen hätten.
Nachts träume er von den toten Körpern, über die er auf der Flucht gestiegen sei. Und manchmal von jenen Männern, den buddhistischen Nachbarn und den burmesischen Soldaten, die ihn und seine Familie aus seinem Bauerndorf in Burma verjagt hätten. Er höre ihre Stimmen, höre wie sie schrien: «Ihr gehört nicht hierhin, geht zurück nach Bangladesch!» Nach diesen Worten fielen die Schüsse. Einer traf Gora Miha am Handgelenk.
Jasmin, 20, und ihre Mutter Fatima, 40, Rohingya
Die jüngste Bewohnerin des Flüchtlingslagers hat noch nicht einmal einen Namen. Sie ist wenige Stunden alt. Ihre schwarzen Haare kleben schweissnass am winzigen Kopf, die Augen sind geschlossen. Glücklich sei sie, sagt Jasmin, die junge Mutter, von Schmerzen gezeichnet. Das Mädchen kam um vier Uhr in der Früh unter einer Plastikplane zur Welt.
Sie habe ihre Enkelin eigenhändig aus dem Leib ihrer Tochter gezogen, sagt Fatima, die 40-jährige Grossmutter: «Die Geburt war unendlich schmerzhaft. Doch noch schwieriger war die Flucht. Als das Nachbardorf brannte, entschieden wir uns nach dem Frühstück nach Bangladesch zu fliehen. Aber wir konnten nicht einmal den Reis zu Ende essen, als bereits die ersten Häuser in unserem Dorf brannten. Es war furchtbar zu sehen, wie die Leute abgeschlachtet und ins Feuer geworfen wurden. Wir liessen alles zurück und flohen in Richtung Grenze.»
Drei Tage und drei Nächte war die Familie zu Fuss unterwegs, bis sie den Grenzfluss erreichte. Alle hofften und beteten, dass Jasmin das Kind nicht unterwegs zur Welt bringen muss.
Es war furchtbar zu sehen, wie die Leute abgeschlachtet und ins Feuer geworfen wurden.
So wie Jasmin und ihrer Familie erging es Tausenden von anderen Frauen. Einige stehen irgendwo mitten in den endlosen Zeltstätten und strecken bittend die Hände aus, ein Kind auf dem Arm. Viele Kinder sind unterernährt, bereits geschwächt von den langen, konfliktreichen Monaten vor der Flucht. Viele Mütter können nicht stillen. Es mangelt an Babynahrung und auch an Gynäkologinnen.
Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass 24‘000 Frauen in den Lagern schwanger sind oder stillen. Doch weil die Rohingya weder in Burma noch in Bangladesch anerkannt sind, haben die Kleinkinder in den Lagern oft nicht nur keinen Namen, sondern auch keine Nationalität. Das Schicksal der Kleinsten, sagt die Mutter von Jasmin, liege einzig in den Händen Gottes.
Abul Kalam, 55, Rohingya
Abul Kalam hat überlebt. Er konnte ans Ufer schwimmen. Der drahtige Mann mit den stechenden Augen liegt hustend auf einer Matte in einem schmutzigen Gang des Sadar-Spitals von Cox's Bazar. Neben ihm ist alles, was er noch besitzt: Eine Wasserflasche, eine Schachtel Medikamente, eine leere Lunch-Box.
Sein ganzes Dorf sei geflohen, nachdem die buddhistischen Nachbarn ihre Tiere und Ernte gestohlen und die burmesischen Soldaten ihre Häuser niedergebrannt hätten, erzählt der Bauer. Nach drei Tagen Fussmarsch seien sie am Grenzfluss angekommen.
Das Wichtigste zur Situation
- 537'000 Angehörige der muslimischen Minderheit sind seit Ende August aus Burma geflohen.
- Wegen der Krise sind bereits fast 450'000 Rohingya im benachbarten Bangladesch angekommen.
- Angriffe durch militante Rohingya auf Polizei- und Armeeposten im Staat Rakhine hatten zu einer scharfen militärischen Antwort der Sicherheitskräfte geführt.
- Burma weist Darstellungen, es sei ein Völkermord an den Rohingya im Gange, zurück, und bezeichnet die Aufständischen als «Terroristen».
Verwandte aus Malaysia hätten den Bootsmännern Geld für die Überfahrt geschickt, so Abul Kalam. «Die Bootsmänner sagten uns, dass sie uns mit dem kleinen Boot zu einem grossen Schiff im Meer bringen würden, das uns dann nach Bangladesch bringen würde. Doch nach einer Nacht waren wir auf hoher See und es kam kein grosses Schiff. Unser Boot war voller Wasser. Dann ging das Benzin aus. Als wir schliesslich nach einem Tag und einer Nacht auf den Strand zutrieben, lief das Boot auf einen Felsen auf und zerbarst.»
Das geschah am Abend des 28. Septembers. Abul Kalams Frau, seine zwei Töchter und sein Enkel ertranken. Drei Töchter hätten überlebt, sagt er. Sein siebenjähriges Mädchen liegt ebenfalls im Spital, aber von den anderen fehle jede Spur. Das sei für ihn jetzt das schlimmste, sagt Abu Kalam unter Tränen.
Am nächsten Tag ist er weg, aus dem Spital verschwunden. Er habe sich auf den Weg gemacht in eines der grossen Flüchtlingslager, sagen andere Patienten. Dorthin also, wo bereits Hunderttausende unter Plastikplanen ein neues Zuhause gefunden haben. Dort hofft er wohl, seine Töchter zu finden.
Wayne Bleier, 63, Kinderschutzbeauftragter von Unicef
Wayne Bleier hat schon einige Krisen gesehen: Syrien, Sudan, Ex-Jugoslawien. Aber das hier, das übersteige auch seine Vorstellungskraft. Es ist die schiere Zahl der Flüchtlinge, mehr als eine halbe Million – mehr als 60 Prozent sind Kinder. Viele von ihnen haben erlebt, wie ihre Dörfer abgebrannt, Frauen vergewaltigt, Nachbarn erschossen wurden.
Wenn sich die Kinder sicher fühlen, in die Schule gehen können, dann werden nur ganz wenige von ihnen traumatisiert werden.
Einige der Kinder zeichnen diese Erlebnisse mit Farbstiften: Raketen, die aus Helikoptern auf die Dörfer abgefeuert werden; Soldaten, die auf Menschen schiessen. Und doch sagt Bleier, der Kinderschutzbeauftragte von Unicef: «Das Wichtigste für die Kinder ist jetzt Sicherheit. Wenn sie sich sicher fühlen, wenn sie einen geregelten Ablauf haben, in die Schule gehen können, dann werden nur ganz wenige von ihnen traumatisiert werden.» Denn Menschen und vor allem Kinder können sich anpassen, sind widerstandsfähig.
Viele sind einfach nur froh, dem Horror in Burma entronnen zu sein. Jetzt bräuchten sie klare Abläufe, müssten beschäftigt werden, um nicht in die Depression zu verfallen, sagt Bleier. Bereits hat Unicef in Zelten Schulen und Spielzentren errichtet. Beschäftigt sind die meisten Flüchtlinge mit ihrem täglichen Kampf ums Überleben sowieso. Denn noch fehlt es in den Lagern an allem: An Nahrung, medizinischer Versorgung, Unterkünften.
Ein gemeinschaftlicher Zusammenhalt sei deshalb besonders wichtig, sagt Bleier. Genau da knüpft er an: An der Gemeinschaft und ihren religiösen Führungsfiguren, die auch in den Lagern eine zentrale Rolle spielen. Bleier, der die Psychologen ausbildet, die sich um die Kinder kümmern werden, hofft, diese religiösen Führungsfiguren für sich zu gewinnen, um mit ihnen positiv auf die Kinder und Jugendlichen einzuwirken. Denn nur zu einfach gerät man in einem Umfeld von Entbehrung und Gewalt auf die falsche Bahn.