Worum geht es? Anfang letzter Woche hatte der britische Premierminister Boris Johnson die meisten Corona-Einschränkungen in England aufgehoben und einen sogenannten «Freedom Day» ausgerufen. Seit sieben Tagen sinken dort nun die Ansteckungszahlen kontinuierlich. Das heisst, während in vielen europäischen Ländern die Zahlen wegen der Delta-Variante wieder steigen, sinken sie in Grossbritannien, obwohl dort die Delta-Variante zuerst aufgetreten ist.
Bei den letzten beiden Wellen konnte der Anstieg nur durch Lockdowns gebrochen werden.
Wie passt das zusammen? «Die Wissenschaft rätselt tatsächlich», sagt SRF-Korrespondentin Henriette Engbersen in Grossbritannien. Vermutlich liege es an einer Kombination verschiedener Gründe: «Das schöne Wetter ist einer. Die Schulferien haben angefangen und die Fussball-EM ist vorbei.» Die EM-Spiele hatten noch für steigende Zahlen gesorgt. «Da das Finale im Londoner Wembleystadion nun über zwei Wochen her ist, sinken die Zahlen eben auch wieder.» Das Ganze könne sich aber auch wieder ändern: «Vor zehn Tagen sind hier fast alle Covid-Restriktionen gefallen. Deshalb kann es gut sein, dass die Zahlen in den nächsten Tagen wieder steigen.»
Allerdings gelte es, nicht allzu viel in diese Zahlen hineinzuinterpretieren. Denn die Britinnen und Briten waren etwa eine Woche nach der EM europaweit noch jene mit den fast höchsten Neuansteckungszahlen. Gut sei aber, so Engbersen: «Die letzten beiden Male konnte der Anstieg nur durch Lockdowns gebrochen werden. Die Wissenschaftler hoffen nun, dass diesmal der Rückgang dank einer gewissen Immunisierung der Gesamtbevölkerung möglich war.» Die Impfrate im Land sei hoch und viele haben Covid-19 bereits gehabt und sind deshalb immun.
Wieso gibt es wieder mehr Tote? Trotz weniger Neuinfektionen: Die Zahl der Todesfälle in Grossbritannien ist so hoch wie seit vier Monaten nicht mehr. Dies sei bisher bei jeder Welle so gewesen: «Die Zahl der Todesfälle steigt immer zeitlich verschoben zur Zahl der Infektionsfälle.» Wenn sich beispielsweise eine ältere Person mit dem Coronavirus ansteckt, dauere es meist eine Woche oder länger, bis sie ins Spital eingeliefert wird und allenfalls sogar stirbt. Insgesamt ist die Zahl der Todesopfer bei dieser Welle aber immer noch viel niedriger als bei den letzten beiden Wellen. «Das wird auf die Impfungen zurückgeführt», so die Grossbritannien-Korrespondentin.
Was gilt es im Auge zu behalten? Die Zahl der Hospitalisierungen ist eine der wichtigsten Zahlen geworden, um die Ausbreitung des Virus einzuschätzen. Und diese Zahl ist noch nicht gesunken. Auch da heisst es, dass es auf die Impfung zurückzuführen sei. Diese schützt meist vor einem schweren Verlauf. Problematisch sei aber, so Engbersen: «Die Spitäler sind arg strapaziert, das Gesundheitssystem chronisch unterfinanziert und es gibt es einen Rückstau bei den regulären Behandlungen.» Auch Krebsbehandlungen müssten aufgeholt werden.
Es gibt in Europa momentan kaum ein Land, in dem die Impfquote so hoch ist.
«Im Moment warten über fünf Millionen Menschen auf eine Behandlung. Die Spitäler brauchen Luft, um diesen Stau abzubauen.» Deshalb sei der Schritt, alles aufzumachen, auch so riskant. «Schon kleine Anstiege in den Spitälern sind dramatisch.» Intensivbetten würden rasch knapp.
Folgt nun das grosse Aufatmen? «Das kann man sicherlich so sagen», sagt Engbersen. Darüber hinaus bleibe Grossbritannien ein spannender Fall für die Wissenschaft. «Denn es gibt in Europa momentan kaum ein Land, in dem die Impfquote so hoch ist. Fast 90 Prozent der Menschen haben eine erste Impfdosis erhalten. Deshalb bleibt es spannend zu beobachten, wie sich das Virus verhält.»