Ein besseres Leben – das suchten Yaquelin Pachón und ihr Mann José, als sie vor fast einem Jahr nach Kolumbien auswanderten. Die Kinder wollten sie nachholen. Doch dann kam Corona.
Nun ist das Paar wieder in der venezolanischen Hauptstadt Caracas. «In Kolumbien standen wir vor dem Nichts. In Venezuela haben wir immerhin ein Dach über dem Kopf», sagt Yaquelin Pachón. In ihre Wohnung regnet es rein, doch an eine Reparatur ist nicht zu denken. Yaquelin verkauft Kaffee aus einer Thermoskanne vor dem Haus. Damit verdient sie gerade mal genug für ein Paket Reis am Tag.
Schätzungsweise fünf Millionen Venezolaner haben in den letzten Jahren ihre Heimat verlassen. Misswirtschaft, Hunger und Kriminalität im Land brachten sie dazu, auszuwandern; die meisten nach Kolumbien, Ecuador oder Peru.
Doch seit Ausbruch der Corona-Pandemie finden sie dort keine Arbeit mehr und können deshalb keinen Mietzins mehr zahlen. Und so traten in den letzten Wochen mindestens 90'000 Menschen, so Angaben der kolumbianischen Grenzbehörden, den umgekehrten Weg an – viele zu Fuss, über Tausende von Kilometern.
Bis zu 1.5 Millionen Rückkehrer
Zurück in die alte Heimat, aus der sie geflohen waren. «Wir gehen davon aus, dass in und nach der Pandemie bis zu 1.5 Millionen Menschen nach Venezuela zurückkehren werden», sagt Padre Eduardo Soto, Landesdirektor des Flüchtlingsdienstes der Jesuiten, der in Venezuela vier Büros betreibt.
In Venezuela verbreiten solche Berechnungen Sorge: Die Regierung befürchtet, die Migranten könnten mit dem Coronavirus infiziert sein. In Kolumbien liegen die Fallzahlen bei bald 280'000, mehr als 9400 Menschen sind bereits an Covid-19 gestorben.
In Venezuela haben sich bisher etwa 17'000 Menschen angesteckt, 156 sind an der Krankheit gestorben, so zumindest offizielle Angaben. Sollte sich das Virus in Venezuela weiter ausbreiten, es wäre fatal. Das Gesundheitssystem ist ohnehin am Boden, es fehlt am Nötigsten. In vielen Spitälern gibt es nur unregelmässig Wasser oder Strom.
Gestaffelter Übergang an der Grenze
Um die Situation in der Pandemie einigermassen unter Kontrolle zu halten, lassen die venezolanischen Behörden nur 1750 Migranten pro Woche über die Grenze zu Kolumbien ins Land.
Tausende von Migranten warten deshalb in improvisierten Lagern auf der kolumbianischen Seite der Grenze, was wiederum die Ansteckungsgefahr erhöht.
Wir wurden mehrfach auf Covid-19 getestet, bevor wir mit dem Bus nach Caracas gebracht wurden.
Wer die Grenze überquert, muss in Quarantäne. Im Fall von Yaquelin Pachón und ihrem Mann José waren es zwei umfunktionierte Hotels. Eins in der Grenzregion, das zweite in Caracas: «Es war ein bisschen langweilig und langwierig, aber gut organisiert», sagt die fünffache Mutter.
«Wir wurden mehrfach auf Covid-19 getestet, bevor wir mit dem Bus nach Caracas gebracht wurden und dort nochmals 14 Tage in Quarantäne verbrachten.»
Andere Migranten berichten von horrenden Zuständen in den Unterkünften, vor allem zu Beginn der Pandemie: Übernachtungen auf dem blanken Boden, verdorbenes Essen, kaum Trinkwasser.
Doch nicht nur Migranten können das Virus über die Grenzen tragen. Sondern auch jene, die jeden Tag auf Trampelpfaden, sogenannten «Trochas», von Venezuela nach Kolumbien und zurück marschieren. Sei es, weil sie im Nachbarland arbeiten, zum Arzt gehen oder Schmuggelware über die Grenze bringen.
Venezuelas Präsident Nicolás Maduro sprach bereits von einer «Invasion» von Coronainfizierten, vorbei an den offiziellen Grenzposten – geschickt vom kolumbianischen Präsident Iván Duque, der so Venezuela attackiere. Tatsächlich wählen viele Migranten den Weg über die «grüne Grenze» – wohl kaum von der kolumbianischen Regierung geschickt, eher, um die verpflichtende Quarantäne zu umgehen.
Es ist ein gefährliches Unterfangen: Die Grenzregion wird von Drogenbanden, Schmugglern, Paramilitärs und Guerilla-Gruppen kontrolliert. Allein in den Monaten April, Mai und Juni dieses Jahres wurden in der Grenzregion mindestens 435 Menschen ermordet, 44 verschwanden.
Gewalt und Armut als Gefahren
Die Organisation Human Rights Watch berichtet zudem von Zwangsrekrutierungen durch bewaffnete Gruppierungen und sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder. All das gab es schon vor der Pandemie in dieser Region. Doch die Situation hat sich gemäss Erhebungen der venezolanischen NGO FundaRedes in den letzten Monaten deutlich verschärft.
Zumindest solche Gefahren bleiben jenen erspart, die die Grenzen legal überqueren. Doch zurück in der Heimat erwartet sie ein düsteres Bild. Venezuela geht es in diesen Tagen nicht besser als zum Zeitpunkt, als sie das Land verlassen haben.
Einfach wird es nicht. Aber hier sind wir keine Ausländer. Und mir ist es am Wichtigsten, dass die Familie wieder zusammen ist.
Unerschwinglich teure Nahrungsmittel und oft kein fliessendes Wasser haben zur Folge, dass das Coronavirus auf eine durch Mangelernährung geschwächte Bevölkerung trifft, die nicht einmal durch Händewaschen vorbeugen kann. Dazu kommen ständige Stromausfälle. Eine Studie der Universidad Andrés Bello in Caracas kommt zu dem Schluss, dass 79.3 Prozent aller venezolanischen Haushalte in extremer Armut leben.
Rückkehrerin Yaquelin Pachón ist dennoch froh, in Venezuela zu sein: «Einfach wird es nicht. Aber hier sind wir keine Ausländer. Und mir ist es am wichtigsten, dass die Familie wieder zusammen ist.»