Nico ist 19 Jahre alt und sieht aus wie ein Zwölfjähriger mit einem uralten Gebiss. Vom Heim erzählt er nicht gern. «Es war sehr schwer. Man hat uns unser Geld gestohlen», sagt er. Nico bewegt sich mit Mühe, denn die Drogen haben seine körperliche Entwicklung aufgehalten. Er ist HIV-positiv. Er sagt, er werde demnächst Vater und er hat gerade zu viel oder zu wenige Substanzen im Blut – oder beides.
Ans Isolationszimmer erinnert Nico sich: «Schrecklich war es da.» Man muss ihm heute die Würmer aus der Nase ziehen: Dass er seine ganze Kindheit in Heimen verbrachte, dass er dort regelmässig Beruhigungsmittel und Antidepressiva bekam, dass die kleineren Kinder von Jugendlichen verprügelt und bestohlen wurden, dass die Erzieher ihnen gestohlene Handys abgekauft und mit Gewinn weiterverkauft haben, dass er aus der gewöhnlichen Schule genommen wurde und in eine Sonderschule kam, dass er mit 18 als Volljähriger das letzte Heim verlassen musste und seither auf der Strasse lebt.
«Die Erzieher haben uns geschlagen, die Lehrer auch», erzählt Ilinka. Sie ist 34 Jahre alt. Ihre zwei Kinder leben getrennt von ihr. Sie schnüffelt Leim und lebt wie Nico derzeit in einem kleinen NGO-Unterschlupf für Obdachlose. «Eine Erzieherin schlug mir sogar mit einem Blumentopf auf den Kopf. Darum bin ich heute so, wie ich bin: nicht ganz normal.» Zwar seien Inspektoren in die Heime gekommen, aber die Heimleiter hätten den Kindern gedroht: «Wenn ihr etwas erzählt, gehts euch nachher schlecht.»
Eine Erzieherin schlug mir sogar mit einem Blumentopf auf den Kopf. Darum bin ich heute so, wie ich bin: nicht ganz normal.
Geht es in rumänischen Kinderheimen immer noch so zu und her wie zu Zeiten von Diktator Nicolae Ceausescu? «Nein es hat sich viel getan. Damals sah man Bilder von Kindern, die ans Bett gefesselt wurden. Solche Grausamkeiten sind vorbei», sagt Vlad Alexandrescu. Er sitzt für die Oppositionspartei USR im Parlament und hat viele Kinderheime besucht, nachdem er auf Missstände aufmerksam gemacht worden war.
Doch neue Probleme haben sich eingeschlichen. Alexandrescu hat festgestellt, dass sehr viele Heimkinder mit Medikamenten ruhiggestellt werden. Das geschehe wohl aus einem einfachen Grund, vermutet er: «Die Erzieher verschaffen sich so Ruhe.»
Viele Kinder aber seien traumatisiert. Sie bräuchten eigentlich Psychotherapie und nicht Psychopharmaka, die sich meist schlecht auf ihre Leistungen auswirkten. Darum würden die Kinder oft auf die Sonderschule geschickt, so Alexandrescu weiter. «Eine schlechte Lösung. Intellektuell wären viele Heimkinder der normalen Schule gewachsen. In der Sonderschule aber beschäftigt man sie nur noch, statt sie auf das Berufsleben vorzubereiten.»
Rumänien ist eben ein armes Land. «Ja, aber kann man damit entschuldigen, dass Kinder mit 18 Jahren auf die Strasse gestellt werden, ohne Dach über dem Kopf und ohne Perspektive?» Wie viele Heimkinder später einen Beruf lernen und eine Stelle finden, ist unbekannt. Aber es sind sehr wenige, wie Raluca Pahomi sagt. Ihre NGO Asociatia Homeless betreibt den Unterschlupf von Nico und Ilinka. «Ein Heimkind von zehn schafft es, will ich glauben», sagt sie. Und was ist mit den übrigen neun? «Alle sind Alkoholiker, zwei nehmen harte Drogen, drei sterben, von zweien verliert sich die Spur im Ausland, vier suchen erfolglos einen Job und werden kleinkriminell, zwei gründen zusammen eine Familie.»
Sie alle leben nur im Heute. An die Zukunft zu denken, hat man Ihnen im Heim nicht beigebracht.
Es ist eine traurige Rechnung, die nicht aufgeht – weder mathematisch noch menschlich. Auch von denen, die bei ihr landen, hat Pahomi viele sterben sehen. «Sie alle leben nur im Heute. An die Zukunft zu denken, hat man Ihnen im Heim nicht beigebracht.» Sie möchte diesen jungen Erwachsenen helfen. Vor allem aber nimmt sie sie so, wie sie aus den Heimen kommen. «An ihnen herumzuflicken ist schwierig. Man kann sie höchstens beraten. Wichtig ist, dass man sie als Personen wahrnimmt, als Individuum und nicht nur als jemand, der Kleidung und Nahrung braucht.»
So sei es, wirft Ilinka von der Seite ein: «Sie hat recht, sie hat uns immer geholfen, ohne Bedingungen zu stellen. Sie hat begriffen, wie wir leben: immer zwischen Leben und Tod.»