Tatjana Uljanowa nimmt kein Blatt vor den Mund: «Wer ein Verbrechen verschweigt, macht sich auch dafür verantwortlich», sagt die Journalistin gegenüber der «Rundschau». Sie weiss, wovon sie spricht. Einige Wochen nach Kriegsausbruch erhielt sie als Produzentin beim Fernsehsender NTV den Auftrag, ein Video zu schneiden. Es sollte den Beschuss der Geburtenklinik in Mariupol als Fake News abtun.
«Ich habe dann vorgeschlagen, dass ich ein Video über diesen Angriff mache und die Opfer zeige. Sie sagten: ‹Nein, es dürfen keine Leute auf den Bildern sein. Zeige nur die zerstörten Häuser, keine Leute.› Ich habe damals in den Chat meiner Familie geschrieben, dass ich wohl bald kündigen werde. Denn jetzt zwingen sie mich, zu sagen, dass der Angriff auf die Geburtenklinik ein Fake ist.»
Die Literaturwissenschafterin Sylvia Sasse forscht zur russischen Desinformation. «Im Grunde bekommt die russische Bevölkerung die gesamte Welt als verkehrte Welt vorgeführt. Alles wird einmal umgedreht», sagt die Professorin der Universität Zürich.
Putin führe einen Angriffskrieg, sage aber, Russland verteidige sich. Auch der Krieg selbst werde in den Medien als unecht, als Theater dargestellt. So werden im Staatsfernsehen vermeintliche Fake News entlarvt. Demnach sollen etwa die Gräueltaten von Butscha eine reine Inszenierung des Westens sein.
Dass Russland mit diesem Krieg die Ukraine von den Nazis befreie, klingt in westlichen Ohren absurd. Doch das russische Narrativ der angeblich faschistischen Ukraine ist alt. Und seit den Maidan-Protesten in Kiew 2013 wird es von den Medien verbreitet.
Farida Kurbangalejewa war damals Nachrichtensprecherin beim staatlichen Sender «Russland 1». Sie sagt, der Sender sei damals von einer Informations- in eine Propagandainstitution umgebaut worden.
Für Kurbangalejewa ist klar, dass sich Russland mit der jahrelangen Desinformation der Bevölkerung ein langfristiges Problem eingehandelt hat. «Selbst wenn Putin stirbt, stellt sich die Frage, wie man mit all jenen Leuten umgeht, die nichts anderes kennen, als das, was sie im Fernsehen gesehen haben.»
Mühlen der Desinformation mahlen weiter
Derweil mahlen die Mühlen der Desinformation weiter. Täglich schüren Experten in Talkshows Hass und Verunsicherung. Sie erzählen etwa, dass der Westen die russische Zivilisation auslöschen wolle. Oder dass Polen eine Invasion in die Ukraine plane.
Tatjana Uljanowa lebt heute in Spanien. Sie wurde entlassen, weil sie sich in den sozialen Medien kritisch zum Krieg äusserte. Danach fühlte sie sich bedroht, bat beim spanischen Konsulat in Moskau um Unterstützung und reiste aus. Derzeit lebt sie mit ihrem Freund in Barcelona. Es ist unklar, wann sie zurückkehren kann. Wer in Russland öffentlich den Darstellungen des Verteidigungsministeriums widerspricht, dem droht ein Strafverfahren.