Einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren, die Gemälde in der Eremitage von Sankt Petersburg bestaunen, über den Roten Platz in Moskau schlendern: Wer das tun möchte, muss einiges an Bürokratie über sich ergehen lassen. Ein Relikt aus Sowjetzeiten. Ab 2021 ändert Russland nun aber seine Visa-Regeln für Touristinnen und Touristen. Für SRF-Korrespondent David Nauer hat das Riesenreich grosses Potenzial, um zum Reiseland zu werden.
SRF News: Warum wird dieser alte Zopf gerade jetzt abgeschnitten?
David Nauer: Ausschlaggebend war wohl die Fussball-WM von 2018. Damals konnten Fussballfans mit einem Ticket für ein Spiel vereinfacht einreisen. Es war das erste Mal, dass Russland ein solches Prozedere getestet hat. Die Erfahrungen haben den russischen Behörden gezeigt, dass das funktioniert – dass es also weder schlimm noch gefährlich ist, wenn Touristen in grosser Zahl ins Land kommen und sich frei bewegen. Man hat erkannt, dass es ganz im Gegenteil gut ist für Russland.
Gibt es auch kritische Stimmen in Russland, die gegen eine solche Liberalisierung sind?
Davon kann man ausgehen, vor allem im Sicherheitsapparat. Aus Sowjetzeiten gibt es immer noch eine stark isolationistische Tradition. Unter den Kommunisten durften Ausländer nur in Gruppen und begleitet durchs Land reisen. Jeder Ausländer galt als potenzielles Sicherheitsrisiko. Das war in den letzten Jahren zwar nicht mehr so. Aber diese Art zu denken hat sich erhalten, vor allem bei den Sicherheits- und Grenzschutzbehörden, den Geheimdiensten und so weiter.
Zu Sowjetzeiten galt jeder Ausländer als potenzielles Sicherheitsrisiko.
Offenbar konnten sich nun diejenigen Kräfte in der russischen Regierung durchsetzen, die das Land öffnen und eine liberale Praxis etablieren wollen. Für Russland sind das grosse Veränderungen – es ist eine eigentliche Revolution, was den Umgang mit Ausländern und Touristen betrifft.
Was erhofft sich Russland von der Tourismus-Offensive?
Vor allem wirtschaftliche Impulse. Die Rede ist davon, den Umsatz der russischen Tourismus-Industrie in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren auf knapp 30 Milliarden Dollar zu verdreifachen. Es geht aber nicht nur ums Geld, sondern auch um Soft-Power: Russland hat ja nicht das beste Image in der Welt.
Der Tourismus ist in Russland extrem unterentwickelt.
Die Erfahrung zeigt aber, dass Leute, die Russland besucht haben, danach ein anderes oder zumindest differenzierteres Bild des Landes haben. Denn sie erleben, dass Russland nicht nur aus dem Kreml und seiner von vielen kritisch gesehenen Politik besteht – sondern dass Russland ein vielfältiges und sehr freundliches Land ist.
Grosse Hoffnungen also – doch wie realistisch sind sie?
Sie sind realistisch. Der Tourismus ist in Russland extrem unterentwickelt. Im vergangenen Jahr sind etwa fünf Millionen ausländische Besucher ins Land gekommen. Zum Vergleich: Der winzige Vatikan hat ungefähr gleich viele Besucher.
Kürzlich war ich etwa in einer kleinen Stadt ausserhalb von Moskau. Sie hat einen wunderbaren «Kreml», also eine mittelalterliche Burg, Kirchen und eine kleine, zauberhafte Altstadt. Dieser Ort könnte ein wahrer Touristenmagnet sein. Als ich durch die Gassen spaziert bin, habe ich aber keinen einzigen Touristen gesehen – und schon gar keinen aus dem Ausland. Daran sieht man, wie gross das ungenutzte Potenzial der Tourismusdestination Russland ist.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.
Echo der Zeit vom 17.02.2020