Seit der Annexion der Krim ist die russische Mitgliedschaft im Europarat umstritten. Bald könnte sie enden, wenn am Aussenministertreffen in Helsinki nicht noch ein Weg aus der Dauerkrise gefunden wird.
Bei einem Ausschluss würde für russische Bürger die Europäische Menschenrechtskonvention nicht mehr gelten. Sie könnten nicht mehr an den Strassburger Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gelangen. Das taten sie in den vergangenen Jahren zu Zehntausenden. Aus keinem anderen Land kommen mehr Fälle. Die Beschwerdeführer bekamen häufig Recht.
«Russland setzt im Grundsatz um»
Professor Wolfgang Benedek von der Universität Graz, Mitherausgeber eines Buches über Russland und den EGMR, unterstreicht darum die Bedeutung des Gerichts für die russische Bevölkerung.
Aufgrund der Berichterstattung entstehe zwar der Eindruck, Russland foutiere sich um Strassburger Urteile. Doch das trüge meist, sagt Benedek. Es gebe hochpolitische Ausnahmefälle: «Ansonsten aber setzt Russland im Grundsatz um und zahlt auch Entschädigungen und das nicht zu knapp.»
Generell gilt: In Fällen ohne politische Brisanz setzt Russland die EGMR-Entscheidungen klaglos um. Etwa bei Kindsmissbrauch oder menschenrechtswidrigen Gefangenentransporten.
Die «Ausnahmefälle»
Schwierig wird es bei politisch relevanten Fällen. Etwa im Fall Yukos, in dem Russland 1,9 Milliarden Euro Entschädigung zahlen müsste, weil die Zerschlagung des Ölkonzerns von Regierungsgegner Michail Chodorkowski rechtswidrig war. Hier stellt sich der Kreml taub. Bei Urteilen zu Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg in Tschetschenien zögert er die Umsetzung endlos hinaus.
Kritik an «Ablasshandel» ohne Lehren
Auch Professor Lauri Mälksoo von der Universität Tartu in Estland erteilt Russland die Note «befriedigend». Allein die Tatsache, dass sich so viele Russen an Strassburg wenden, zeige, dass sie sich etwas davon versprächen.
Mälksoo beklagt aber, dass Russland Entschädigungen als «Ablasshandel» verstehe: «Man zahlt, man hält sich im Einzelfall daran – und sündigt dann erneut.» Ergebnis: Strassburg muss Russland aufs Neue wegen derselben Menschenrechtsverletzungen verurteilen.
Gut für Reformen – in den ersten Jahren
Es stimme zwar, so Benedek, dass das europäische System in den ersten Jahren stark benutzt wurde, um die russische Gesetzgebung zu modernisieren. Etwa beim Eigentumsschutz und der Strafjustiz. Doch der Reformeifer sei erlahmt und es gebe Rückschritte.
So gehen die russischen Behörden bei den Rechten von Homosexuellen gar auf Konfrontationskurs zum Gericht, um den Konservativen zu gefallen. Auch behält sich Moskau seit 2015 vor, EGMR-Entscheidungen durchs eigene Verfassungsgericht überprüfen zu lassen. Das verletzt die Prinzipien des Europarats.
War die Aufnahme ein Fehlentscheid?
Doch trotz wachsender Probleme widersprechen beide Professoren der Ansicht des früheren Präsidenten des Gerichtshofs, des Baslers Luzius Wildhaber. Dieser erklärte neulich in der «NZZ», es sei falsch gewesen, Russland 1996 in den Europarat aufzunehmen. Die Hoffnungen auf eine volle Demokratisierung und auf mehr Rechtsstaat hätten sich nicht erfüllt.
Mälksoo räumt ein, dass es eine politische Beitrittsentscheidung war. Man habe Russland einen Vertrauensvorschuss gegeben. Doch ein Austritt oder Rauswurf hätten sehr negative Folgen, sagen Benedek und Malksöö übereinstimmend.