Zum Inhalt springen

Schlacht um Rakka «Die Kurden haben jetzt ihren eigenen Willen»

Kurdische Milizen stehen kurz vor dem Sieg über den IS in Rakka. Gespräch mit dem kurdischen Schriftsteller Taha Khalil über die Stellung der Kurden in Syrien nach dem Krieg.

Im Auftrag von SRF waren zwei Journalisten unterwegs in Rojava, im kurdischen Teil Syriens. Die Reise gelang erst nach langen Verhandlungen: Um aus dem kurdischen Autonomiegebiet in Nordirak nach Rojava zu reisen, brauchte es Stempel und Bewilligungen aller möglichen Regierungen und Milizen. Die Führung der Kurden in Nordirak steht der dominierenden Partei in Rojava kritisch gegenüber.

Die beiden kroatischen Journalisten Jerko Bakotin und Nikola Kuprešanin konnten sich schliesslich zusammen mit einem Dolmetscher verhältnismässig frei in Rojava bewegen.

In Rakka stehen kurdische Milizen kurz vor dem Sieg über die Terror-Miliz Islamischer Staat (IS). Für «10vor10» fuhren die Journalisten an die Front in Rakka und berichteten über den Kampf kurdischer Frauen-Einheiten gegen den IS.

Gespräch mit Schriftsteller Taha Khalil

In Qamishli, im Nordosten Syriens an der Grenze zur Türkei, konnten die beiden Journalisten schliesslich ein längeres Gespräch mit dem Schriftsteller Taha Khalil führen. Er lebte während acht Jahren im Exil in der Schweiz. Khalil ist Moderator einer politischen Sendung und ein wichtiger Exponent der führenden Partei in Rojava.

Seine Antworten geben eine Innensicht auf die Haltung der Kurden im syrischen Bürgerkrieg – unterdessen ein Weltkrieg im Kleinformat (siehe Box). Die Kurden befürchten, von den Grossmächten um die politischen Früchte ihres militärischen Siegs gebracht zu werden. Gut möglich, dass das syrische Regime von Baschar al-Assad die Kurden-Gebiete wieder ganz unter die eigene Kontrolle bringen will.

SRF News: Taha Khalil, wo stehen die Kurden in diesem komplizierten System der Allianzen?

Taha Khalil sitzt rauchend an einem Tisch
Legende: Der kurdische Journalist Taha Khalil lebte lange Jahre als Autor in der Schweiz und Deutschland. SRF

Taha Kahlil: Die Kurden kämpfen für sich selbst und proklamierten 2014 die Selbstverwaltung. Wir wurden allmählich stärker – und wir versuchten, eine neue Gesellschaft aufzubauen, eine demokratische Gesellschaft.

Klar gab es gewaltigen Widerstand – vom IS und von der Türkei. Aber unsere Ideen und Träume waren stark. Nach dem Sieg in Kobane hatten wir plötzlich einen guten Ruf und schöpften Hoffnung für unsere Gesellschaft.

Nach sechs Jahren Krieg sind die Kurden die zweitstärkste Kraft in Syrien nach dem Assad-Regime. Wir haben den IS zurückgedrängt. Sobald wird Rakka ganz befreit haben, werden wir ungefähr 40 Prozent von Syrien kontrollieren.

Die Kurden sind keine Schafe mehr!

Doch was geschieht nach dem Krieg? Die Kurden könnten einmal mehr leer ausgehen.

Früher waren wir die Schafe zwischen den Wölfen. Aber die Kurden sind keine Schafe mehr, sie haben ihren eigenen Willen und haben ihre eigene Gesellschaft aufgebaut. Und sie wissen, was sie wollen.

Kritiker sagen: Das System in Rojava, im kurdischen Gebiet in Syrien, sei sehr repressiv und dominiert von der PKK, der kurdischen Arbeiterpartei, die in der Türkei verbotenen ist.

Das stimmt nicht. Es gibt zahlreiche junge Leute, die zwar PKK-Mitglied waren und die nach der Revolution 2011 hierher zu ihren Familien zurückgekommen sind. Sie sind also nicht PKK-Mitglieder aus der Türkei.

Die Türkei findet immer einen Grund, Krieg gegen die Kurden zu führen.

Klar hat die regierende kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) in Syrien die Ideologie von PKK-Führer Abdullah Öcalan [in der Türkei in Haft] übernommen. Aber die PYD wäre bereit für einen Frieden mit der Türkei. Doch die Türken wollen keine kurdischen Gemeinwesen und suchen nach Gründen, diese zu zerstören. Am einfachsten geht das, indem man uns in den gleichen Topf wie die PKK wirft [die in vielen westlichen Staaten als Terror-Organisation gilt]. Die Türkei findet immer einen Grund, Krieg gegen die Kurden zu führen.

Aber es gibt Stimmen, die sagen: Das System sei repressiv, hunderte von Oppositionellen seien in Haft und tausende hätten wegen ihrer Meinungen flüchten müssen.

Tausende oder Hunderte – das stimmt nicht. Es gibt nur ein paar Leute, die in Haft sind, meistens aus der Partei von Massud Barzani [Anhänger der kurdischen Führung in Nordirak, die mit der führenden Partei in Rojava rivalisiert]. Sie sind nicht in Haft wegen ihrer Meinung, sicher nicht. Es gibt tausende Leute hier, die Tag und Nacht schimpfen, auch gegen die Märtyrer, die uns heilig sind – und ihnen geschieht nichts.

Diejenigen, die in Haft sitzen, haben gegen unsere Gesetze verstossen. Sie haben sich geweigert, für ihre Büros Bewilligungen einzuholen. Als die Polizei Ihre Büros geschlossen hat, haben sie diese mit dem Vorschlaghammer aufgebrochen. Danach hat sie die Polizei verhaftet. Die meisten von Ihnen sind übrigens schon wieder frei.

Und die Minderheiten?

Auch sie nehmen an der Selbstverwaltung teil. Es gibt auch Araber und (christliche) Assyrer in den Reihen der Volksverteidigungseinheiten YPG. Aber natürlich ist es mühsam und braucht es Zeit. Man kann nicht einfach einen Knopf drücken und sagen: Jetzt haben wir eine Demokratie und leben friedlich zusammen. Nein, die Leute hier haben jahrelang unter Druck und Hass gelebt. Demokratie kann man nicht einfach beschliessen. Es braucht eine Kultur dazu, ein paar Generationen, bis die Basis für eine Demokratie aufgebaut ist. Aber wir versuchen es.

Die Rolle der Frauen in Rojava und im Kampf gegen den IS wird hervorgehoben. Wollen Sie sich so Prestige verschaffen?

Nein, es geht nicht darum, dem Westen zu gefallen. Heute haben die Kurdinnen mehr Rechte als die Frauen im Westen. Der Westen unterdrückt die Frauen noch immer. Wir haben 40 Prozent Frauen im Parlament, es gibt 20'000 oder mehr bewaffnete Frauen in der YPJ [bewaffnete kurdische Frauenmiliz]. Da geht es sicher nicht um Prestige. Wir haben nun auch die Zivilehe eingeführt. Das gibt es nirgends sonst im Nahen Osten. Das machen wir sicher nicht für den Westen, sondern weil wir uns respektieren. Zwei junge Menschen von unterschiedlicher Religion können einfach auf die Gemeinde gehen und heiraten.

Kurz vor dem Sieg über den IS steckt Rojava in einer gefährlichen Situation: Offenbar will die Türkei das kurdische Staatswesen in Syrien tilgen, das Regime gewinnt an Stärke, die Kurden im Westen (Afrin) müssen mit den Russen zusammenarbeiten und die Kurden hier arbeiten mit den Amerikanern zusammen. Es sieht so aus, als ob die Grossmächte Syrien in Einflusszonen aufteilen – und die Kurden sind mitten drin.

Wir werden für Afrin [kurdisches Gebiet westlich des Euphrat] eine Lösung finden. Wir werden Afrin nicht aufgeben. Es gibt Probleme mit der Türkei, den Russen, den Hisbollah-Milizen, dem Regime. Aber Afrin bleibt Teil von Rojava.

Aber wie sehen Sie die Zukunft der Zusammenarbeit mit den USA? Vertrauen sie den Amerikanern?

Als wir in Kobane gekämpft haben, war niemand mit uns: Keine USA, keine Anti-Terror-Koalition. Ich erinnere mich, als ich einmal in Kobane war, blieb uns noch eine Strasse, 700 Meter. Trotzdem haben die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ [bewaffnete kurdische Milizen in Syrien] gesagt: Wir werden bis zum letzten Menschen kämpfen. Und sie haben gekämpft und den IS besiegt. Der Grund: Sie kämpfen für sich, nicht für jemand anderen.

Wenn die Amerikaner uns nicht mehr unterstützen – Okay.

Das ist der Unterschied zwischen den YPG/YPJ und den gekauften Milizen der Türkei. Sie kämpfen nicht für das syrische Volk, sondern für Erdogans Träume. Deshalb sage ich: Die Sache hängt nicht mit Vertrauen oder fehlendem Vertrauen zusammen. Die USA brauchen etwas von uns, wir haben etwas für die USA: es geht um Kauf und Verkauf. Das ist Politik.

Wenn die Amerikaner uns nicht mehr unterstützen – Okay. Wir haben uns am Anfang nicht auf US-Hilfe eingestellt. Wir bekämpfen den IS nicht wegen der Amerikaner, sondern wegen uns. Weil der IS gegen unsere Prinzipien ist, weil der IS gegen die Menschlichkeit ist.

Wie sehen Sie die Zukunft der Kurden in Syrien?

Syrien wird nie mehr sein wie vor dem Krieg, das ist vorbei. Oder wie es vor der Baath-Herrschaft (1964) war. Die Menschen haben sich verändert. Turkmenen, Araber, Kurden – alle brauchen das Recht, ihre eigene Sprache zu sprechen und wollen, dass ihre Kultur respektiert wird. Ich glaube, dass Föderalismus das richtige System dafür ist.

Das Gespräch führten Jerko Bakotin und Nikola Kuprešanin.

Ein Weltkrieg im Kleinformat

Der syrische Bürgerkrieg begann 2011 nach dem Arabischen Frühling als Aufstand gegen das Assad-Regime in Damaskus. Bald begannen dschihadistische Gruppierungen, beträchtliche Gebiete zu erobern. 2014 rief der Islamische Staat (IS) in Syrien und Irak ein eigenes Kalifat aus – mit Rakka als Hauptstadt.
Die Kurden beanspruchen in ihren Siedlungsgebieten in Syrien (Rojava) Autonomie. 2014/2015 gelang es den kurdischen Milizen, die Stadt Kobane gegen den IS erfolgreich zu verteidigen.
Unterdessen findet in Syrien ein Stellvertreterkrieg statt: Russland und der Iran unterstützt das Regime, die Türkei unterstützt eigene Milizen – und die USA fliegen Luftangriffe für die kurdischen Milizen. Es gibt Anzeichen, dass die Grossmächte Syrien nach dem Sieg über den IS in Einflusszonen einteilen werden. Die Kurden sind dabei eingezwängt zwischen dem Assad-Regime und der Türkei.

Meistgelesene Artikel