Öffentlich gemacht hatte die Vorwürfe die spanische Tageszeitung «El País». Seit 2018 dokumentiert ein Team von Journalisten Übergriffe, spricht mit den Opfern von damals. Was diese in Videointerviews mit der Zeitung schildern, ist erschütternd: «Die Hölle ist, wenn du in die Schule gehst, und nur versuchst, zu überleben. Den Tag zu überstehen», sagt ein Betroffener.
Die Übergriffe, mehrheitlich auf Jungen, manchmal auch auf Mädchen, sollen fast ausschliesslich in katholischen Internaten stattgefunden haben. Die mutmasslichen Täter: Pädagogen. Priester. Ordensbrüder.
Die Internatsschüler von damals sind längst erwachsen und wollen nicht mehr schweigen. Das Erlebte traumatisiert sie bis heute. «Bis ich 40 Jahre alt war, schlief ich nur mit eingeschaltetem Licht. Jedes Mal, wenn ich das erzähle, könnte ich weinen.»
Diese Aussagen gesammelt und überprüft haben Journalisten wie Julio Núñez. Sie recherchierten, spürten weitere Opfer auf. Danach konfrontierten die Journalisten die religiösen Orden, die die Schulen leiteten, mit den Vorwürfen. «In manchen Fällen sagten die Orden, es habe bereits Untersuchungen gegeben. In den meisten Fällen hiess es, sie wüssten von nichts.»
Viele Fälle liegen Jahrzehnte zurück, stammen aus der Zeit der Franco-Diktatur. Und doch, sagt Journalist Núñez: «Die meisten Fälle, die uns gemeldet wurden, datieren aus den 1970er und 80er-Jahren. Also aus der Anfangszeit der Demokratie.»
Bund zwischen Katholizismus und Nationalismus
Julián Casanova, Historiker an der Universität Zaragoza, erstaunt das nicht. Während der sogenannten Transición, dem Übergang Spaniens von der Franco-Diktatur zur Demokratie, habe die Kirche von Machtstrukturen profitiert, die über Jahrzehnte gewachsen seien, sagt Casanova. «Ab 1945 erklärte Franco, Spanien sei hauptsächlich katholisch.»
Ab diesem Zeitpunkt hätten religiöse Orden mit ihren Internaten in Spanien quasi eine Monopolstellung im Bildungsbereich genossen, erklärt der Historiker. Das habe Missbrauch begünstigt. Als Spanien demokratisch wurde, blieben die Pädagogen und Ordensleute von damals im Amt, unterrichteten weiter. Und auch der Vatikan zeigte lange kein Interesse daran, Missbrauchsfälle aufzuklären.
Inzwischen habe Papst Franziskus entschieden, dass jeder Verdacht kirchenrechtlich untersucht werden müsse, um die Vorfälle zu klären, sagt Núñez. Deshalb haben die spanischen Journalisten auch den Vatikan über ihre Recherche informiert.
Die spanische Bischofskonferenz lehnt eine systematische Untersuchung der Vorwürfe wie in Frankreich, den USA oder Australien bislang allerdings ab. Sie spricht von Einzelfällen, die jeder Orden für sich aufarbeiten müsse und auch nur dann, wenn es der zuständige Bischof für nötig finde. Einzelne Bischöfe wie der Bischof von Bilbao wollen die Vorfälle nun in ihren Diözesen untersuchen.
Doch den Opfern geht das nicht weit genug. Auch eine Entschuldigung vonseiten der Kirche genügt ihnen nicht. Eine Betroffene sagt: «Ich will ihre Entschuldigungen nicht. Das bringt mir nichts. Ich will, dass es Mittel und Wege gibt, um Missbrauch zu verhindern, damit das den Kindern in der Kirche heute nicht mehr passiert.»
Laut Journalist Julio Núñez sind solche Sorgen berechtigt. «Es gibt Fälle von beschuldigten Priestern, die bis vor Kurzem noch unterrichteten.» Höchste Zeit, dass auch der Vatikan genauer hinschaut.