Seltener Einblick in die belagerte Stadt Tripolis: Der Journalist und Nordafrika-Kenner Beat Stauffer hat mit Mohammed, einem seiner Kontakte in der libyschen Hauptstadt, telefonieren können.
SRF News: Wie schildert Mohammed die Situation der Menschen in Tripolis?
Beat Stauffer: Man kann einigermassen gut Leben in Tripolis – wenn man Geld hat. Die Märkte sind immer noch gut bestückt, auch wenn alles teurer geworden ist. Gelegentlich gibt es Probleme mit dem Trinkwasser oder der Stromversorgung. Das grösste Problem ist aber, an sein Geld auf der Bank zu kommen – sei es Lohn oder Vermögen. Vor den Geldautomaten gibt es so lange Warteschlangen, dass man vor der Bank übernachten muss, wenn man Geld abheben will. In den umkämpften Vorstädten und Quartieren von Tripolis ist die Lage allerdings katastrophal.
Können die Einwohner von Tripolis die Stadt noch verlassen?
Wer Geld hat, kann über den Militärflughafen Mitiga nach Tunis oder Malta fliegen – das kommt allerdings nur für eine kleine Minderheit infrage. Billiger ist der Landweg nach Tunesien, doch diese Fahrten sind sehr gefährlich, weil sie durch umkämpfte Gebiete führen. Keine realistische Alternative ist die Flucht übers Meer. Es gibt keine normalen Schiffsverbindungen mehr. Ausserdem greift die libysche Küstenwache in ihrem Kampf gegen die irreguläre Migration und das Schlepperwesen kleinere Schiffe auf.
Was bedeutet diese Situation für Mohammed und seine Familie?
Mohammed hat während Jahren in Europa gelebt und gearbeitet, deshalb verfügt er über ein Dauervisum für Europa, er kann also per Flugzeug ausreisen. Sein 25-jähriger Sohn fliegt regelmässig in ein arabisches Land, wohin er Geschäftsbeziehungen hat. Mohammeds Frau und die kleineren Kinder dagegen müssen in Tripolis bleiben. Mohammed fürchtet ausserdem, dass der Sohn von den Milizen in Tripolis zwangsrekrutiert werden könnte, um gegen die Truppen von General Chalifa Haftar zu kämpfen. Zudem hat Mohammed Angst, dass die Innenstadt im Zuge der Kämpfe zerstört werden könnte und viele Menschen sterben.
Zu wem halten die Menschen in Tripolis politisch: Zum international anerkannten und von den Milizen unterstützten Regierungschef Fayiz as-Sarradsch oder zu General Haftar?
Mohammed sagt, dass rund zwei Drittel für Haftar einstehen, nur ein Drittel die Milizen unterstützt. Die Gründe sieht er im Verhalten der Milizen und den vielen schlechten Erfahrungen, welche die Tripolitaner mit ihnen in den letzten acht Jahren gemacht haben.
Es gibt eine grosse Sehnsucht nach Wiederherstellung einer staatlichen Ordnung mit klaren Strukturen.
Viele Milizen treten sehr selbstherrlich auf und bereichern sich irregulär. Es gibt eine grosse Sehnsucht nach Wiederherstellung einer staatlichen Ordnung mit klaren Strukturen – vielleicht sogar nach einem starken Mann. Viele befürchten aber auch, dass Haftar eine neue Diktatur im Stile Gaddafis errichten könnte.
Gibt die Einschätzung Mohammeds ein repräsentatives Bild der Lage wieder?
Ich halte Mohammed für sehr urteilsfähig, war viel im Ausland und ist welterfahren. Er ist ein ehemaliger Gaddafi-Gegner. In Tripolis und Libyen gibt es keine Meinungsumfragen, Kenner des Landes sind geteilter Meinung, ob eine Mehrheit der Bevölkerung für oder gegen Haftar ist.
Kenner des Landes sind geteilter Meinung, ob eine Mehrheit der Bevölkerung für oder gegen Haftar ist.
In Tripolis und Misrata – der zweiten Metropole im Westen des Landes – wird vehement bestritten, dass Haftar die Unterstützung der Mehrheit geniesse. Ein Experte in Tunis aber sieht die Situation ähnlich wie Mohammed. Grundsätzlich gilt: Verlässliche Aussagen sind in der derzeitigen politischen Lage in Libyen unmöglich.
Das Gespräch führte Christoph Kellenberger.