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Die Urus und ihre schwimmenden Häuser
Aus Rendez-vous vom 14.10.2024. Bild: SRF/Teresa Delgado
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Schwimmende Inselstädte Das indigene Volk der Urus kämpft im Titicacasee ums Überleben

Der Titicacasee im Grenzgebiet zwischen Bolivien und Peru zieht Touristengruppen an. Denn mitten in Südamerikas grösstem See leben die Urus auf schwimmenden Inseln. Wie lange die Urus noch so leben können, ist allerdings fraglich. Denn der Titicacasee ist stark verschmutzt.

Etwas zögerlich bewegt sich eine Touristengruppe auf der Uru-Insel. Unter den Füssen ist kein fester Boden: Ihre schwimmenden Inseln bauen die Urus selbst, aus Schilf. Es knirscht bei jedem Schritt.

Der Tourguide bringt den Reisenden bei, wie sie den Insel-Chef in der Uru-Sprache Pukina korrekt begrüssen: «Guten Tag heisst ‹Kamisaraki› und ‹Wie geht es dir?› heisst ‹Waliki›». Der Insel-Chef stellt sich als Orlando vor.

Der Reiseleiter erklärt, wie die Uru-Inseln genau entstehen: «Hier sehen sie vier Blöcke grosser Pflanzenwurzeln. Wir binden sie zusammen, sodass das Schilf kreuz und quer wächst und sich ineinander verwebt. Es dauert ein halbes Jahr, bis so eine Insel-Basis entsteht. Danach legen die Urus darauf frisches Schilf aus.»

Zwei Personen zeigen eine bunte textile Kunst auf einer Schilfinsel.
Legende: Insel-Chef Orlando (rechts) präsentiert eine selbst bestickte Decke, der Tourguide erklärt die Motive. SRF / Teresa Delgado

So entsteht eine grosse Plattform, die wie ein Floss auf dem Wasser treibt. Die Pflanzenwurzeln schwimmen von allein auf der Wasseroberfläche, mit natürlichem Auftrieb, wie ein Korken. Das Schilf ist jodreich und auch essbar. Es schmeckt knackig frisch, ein bisschen wie eine Salatgurke.

Frisch ist im Titicacasee ansonsten wenig. Der in den Anden auf fast 4000 Metern über Meer höchstgelegene kommerziell schiffbare See der Welt leidet unter starker Wasserverschmutzung. Die Gründe sind der Klimawandel, weniger Regen und starkes Bevölkerungswachstum

Städte wie Juliaca und Puno leiten ihr Abwasser direkt in den See, Kläranlagen fehlen. Und die Bergbauindustrie verseucht den See mit hochgiftigen Schwermetallen.

Südamerikas grösster See ist eine Kloake

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Der Titicacasee, an den die Länder Bolivien und Peru grenzen, liegt auf 3800 Metern in einer Hochebene der Anden-Gebirgskette und ist rund 15-mal so gross wie der Bodensee.

Doch der See ist stark verschmutzt. Das Gewässer steht ökologisch vor dem Kollaps, denn es gibt rund um den See keine Kläranlagen. Das bedeutet, dass Städte wie Juliaca mit fast 300'000 Einwohnern und Puno mit rund 150'000 ihre Abwässer ungeklärt in den See leiten.

Zudem gibt es am Seeufer auch keine Müllabfuhr: Die Leute entsorgen ihren Hausmüll in den Flüssen. Diese transportieren den Abfall bis in den See.

Invasive Fischarten, wie die Forelle und der Ährenfisch, die in umliegenden Gewässern künstlich eingeführt wurden, gelangten in den See und haben die einheimischen Fischarten fast völlig verdrängt, sodass das natürliche Ökosystem des Sees nicht mehr funktioniert.

Und die ca. 30'000 illegalen Goldminen rund um Puno leiten Bergbaurückstände und giftige Schwermetalle wie Quecksilber und Blei in den See.

Die Regierungen von Peru und Bolivien versäumen es seit Jahren, hier durchzugreifen und schieben sich gegenseitig die Schuld zu für den Zustand des Titicacasees im Grenzgebiet der beiden Länder.

«Die Urus trinken dieses verschmutzte Seewasser. Sie haben gewisse Antikörper und die Schilfwurzeln ihrer Inseln filtern das Wasser auch etwas. Aber wenn Sie und ich dieses Wasser trinken, dann sehen wir uns garantiert im Spital», sagt der Tourguide.

Der Name «Uru» bedeutet «schüchtern», erklärt er, denn die Urus leben gerne abgeschieden vom Festland – eigentlich. Inzwischen ist der Tourismus notgedrungen zu einer wichtigen Einkommensquelle geworden, denn von der Fischerei lässt sich im verschmutzten Titicacasee kaum noch leben.

Verschmutztes Feuchtgebiet mit Plastikmüll.
Legende: Plastikflaschen und Müll schwimmen im Fluss Katari, der in den Titicacasee mündet. (5. November 2021) Keystone / AP Photo/Juan Karita

Rund 2000 Urus gibt es noch in Peru, etwa 3500 in Bolivien. Die meisten sind wegen der Wasserverschmutzung und auf der Suche nach Arbeit aufs Festland gezogen, insbesondere jüngere Generationen. Hier auf den schwimmenden Inseln leben nur noch ein paar hundert Menschen.

Eine Uru-Frau, die sich als Cecilia vorstellt, nimmt uns mit in ihr Haus. Sie ist achtzigjährig, hinkt leicht. Das Leben auf dem See, die Kälte, die Feuchtigkeit – sie sorgen für viel Arthrose. Alle paar Monate kommen Ärzte vom peruanischen Festland zu Besuch, um bei den Inselbewohnern medizinisch nach dem Rechten zu sehen.

Uru-Frau Cecilia zeigt ihre selbstbestickten Decken
Legende: Uru-Frau Cecilia zeigt ihre selbstbestickten Decken: Solche von Hand gefertigten Decken und Tischläufer verkaufen die Urus an die Touristen. Die Motive zeigen Legenden der Urus. Die achtzigjährige Cecilia sagt, sie habe dieses Handwerk schon als Kind erlernt. SRF / Teresa Delgado

Dieses Haus benutze sie nur, um zu schlafen, sagt Cecilia in gebrochenem Spanisch zu zwei amerikanischen Touristen. Ansonsten spielt sich das Inselleben draussen ab, in der Gemeinschaft. Wenn ein verheiratetes Uru-Paar ein paar ruhige Stunden brauche, «dann fahren sie zu zweit in einem Boot hinaus auf den See», sagt Cecilia. «Das ist recht romantisch, so unter dem Sternenhimmel», lacht die alte Frau etwas verschämt.

Corona-Pandemie hat das Leben der Urus verändert

In Peru einschlafen, und auf der schwimmenden Insel auf der anderen Seeseite in Bolivien aufwachen – diese Zeiten sind aufgrund stärkerer Grenzkontrollen inzwischen vorbei. Heute haben die meisten Urus ihre Inseln fest verankert, auch, weil gewisse Zonen des Sees zu stark verschmutzt sind, um dort zu leben.

Die Urus sind notgedrungen flexibel, aber auch sonst ein ziemlich pragmatisches Volk: «Vor Corona gab es hier 70 Inseln», sagt der Touristenführer. Das Wegfallen des Einkommens durch den Tourismus führte zu Streit. «Jetzt sind es etwa 200. Denn wenn die Urus streiten, schneiden sie ihre Inseln einfach in der Mitte durch.»

Von der Durchtrennung der Inseln über den Touristenbesuch bis zur Stimmabgabe bei den nächsten Wahlen, alles werde gemeinsam entschieden, sagt die deutsche Politikwissenschaftlerin Aline-Sophia Hirseland.

Sie hat das kollektive Abstimmungsverhalten der Urus erforscht. «Die Urus stimmen tatsächlich nach dem Mehrheitsprinzip ab. Wenn die Mehrheit einer Gemeinschaft sagt, diese oder jene politische Option ist für uns die beste, dann schliessen sich alle anderen an.»

Es wird für die Uru-Gemeinschaften schwierig sein, zu überleben, zumal auch die Lebensbedingungen sehr hart sind.
Autor: Aline-Sophia Hirseland Deutsche Politikwissenschaftlerin

Es sei wichtig, dass die Uru-Gemeinschaften mit einer Stimme sprechen und intern geeinigt seien, «um sich etwa gegen die invasiven Tätigkeiten von Bergbauunternehmen behaupten zu können», erklärt Hirseland.

Doch auch politische Kandidatinnen und Kandidaten wüssten das kollektive Abstimmungsverhalten für sich zu nutzen: «Sie gehen gezielt in verschiedene Uru-Gemeinschaften, um mit den Meinungsführern zu paktieren, weil sie wissen, dass sie sich so gleich mehrere hundert oder tausende Stimmen auf einmal sichern können.»

Zukunft der Urus ist ungewiss

«In den Uru-Gemeinschaften leben hauptsächlich nur noch ältere Menschen. Es wird für diese Gemeinschaften schwierig sein, zu überleben, zumal auch die Lebensbedingungen sehr hart sind», sagt Hirseland.

Für die Touristinnen und Touristen geht es mit dem Schiff zurück aufs Festland, ins Hotel. Orlando, Cecilia und die anderen schüchternen Inselbewohnenden verabschieden die Besuchenden nach Uru-Tradition mit einem Lied. Ihr Gesang verhallt leise, während das Motorboot mit Richtung Puno durch den dreckigen Titicacasee braust.

Rendez-vous, 14.10.2024, 12:30 Uhr

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